1. Genre, Gender und ästhetische Erfahrung

1. Genre, Gender und ästhetische Erfahrung
1.1. Der klassische Woman’s Film und die Zuschauerin
1.2. Zur Filmerfahrung
1.3. Genre und Gender
1.3.1. Zum psychoanalytisch-phänomenologischen Zuschauerinnenmodell
1.3.2. Zum neoformalistisch-empirischen Zuschauerinnenmodell
1.4. Genre als Erfahrungsmodalität


Obwohl der Diskurs um Chick Flicks zahlreiche Parallelen zu den Auseinandersetzungen mit dem klassischen Woman’s Film aufweist, werden die feministischen Filmtheorien der 1970er und 1980er ausgerechnet von denjenigen Kritikerinnen ignoriert, die ein historisches Desinteresse beklagen und Filmen wie Frauen ein fehlendes Bewusstsein für feministische Tradition vorwerfen. Für meine Studie bilden die Theorien zum klassischen Woman’s Film hingegen einen wichtigen Bezugspunkt, auch wenn sich mein Forschungsgegenstand deutlich vom früheren Kino unterscheidet. Die Art und Weise, wie Weiblichkeit inszeniert wird, hat sich im Vergleich zum früheren Woman’s Film stark verändert. Während die Heldinnen von Chick Flicks durch ihre pink-knallenden Kostüme und ihre schrillen Stimmen immens präsent sind, kennzeichnen die Protagonistinnen des damaligen Hollywoodfilms meist Sprachlosigkeit und Schweigen, eingefangen in Schwarz-Weiß-Bilder (insb. Silverman 1988; Doane 1987; Modleski 1987).[13] Zudem gelten die heutigen Hauptfiguren nach postfeministischen Kriterien als emanzipiert, wohingegen sich diejenigen des klassischen Woman’s Film durch Hysterie, Paranoia und andere, als psychische Defekte ausgewiesene Merkmale auszeichnen (Doane 1987, 1984). Ferner lassen sich Chick Flicks eher der Komödie zurechnen, während der klassische Woman’s Film oftmals mit dem Melodrama gleichgesetzt wird. Anders als die damaligen Filme, die der feministischen Filmtheorie zufolge Frauen keinerlei Subjektpositionen erlaubten, ermöglicht das gegenwärtige Kino Frauen eine positive Filmerfahrung. Gleichwohl schließe ich mich mit meinem Ansatz einer Kritik an, die Gertrud Koch schon 1980 formuliert hat: Sie konstatierte damals, dass die ästhetische wie theoretische Reflexion in den feministischen Filmanalysen zu kurz kämen und die entworfenen (patriarchalen) Frauenbilder im Vordergrund stünden und weniger die „subjektive Bedeutung dieser Bilder für die Frauen“ (Koch 1989 [1980], 132). Es handelt sich hier um einen Sachverhalt, der auch heute noch aktuell und für mein Vorhaben relevant ist.

1.1. Der klassische Woman’s Film und die Zuschauerin

Das Subjekt ist in den Theorien zum klassischen Woman’s Film nur in Bezug auf ein Objekt denkbar. Fehlt das Objekt, so ist ein Subjektstatus nicht möglich. Mit Blick auf das Familienmelodrama der 1940er Jahre, insbesondere auf das Subgenre des Paranoia-Frauenfilms, kommt Mary Ann Doane zu dem Schluss, dass auch der Woman’s Film Frauen keine reelle Subjektposition erlaube. Zwar löse der Woman’s Film die herkömmliche Begehrensstruktur „männlicher Blick/weibliches Objekt“ auf, doch entziehe er der Zuschauerin letztendlich die Schaulust. Die Filmerfahrung von Frauen zeichne sich durch Angst und Horror aus, da für sie kein eigenes Bezugsobjekt existiere. Der Woman’s Film verunmögliche Frauen so eine angemessene weibliche Identifikationsmöglichkeit. Weibliche Subjektivität, so Doanes Fazit, ist innerhalb eines phallozentrischen diskursiven Kontextes zwangsläufig fragil, masochistisch und total widersprüchlich, ebenso wie die Inszenierung weiblicher Phantasie. Eigentlich sei beides darin gar nicht vorgesehen (Doane 1984, 70ff.).

Aus dem Grund forderten Kritikerinnen wie Mulvey und weitere Avantgarde-Filmemacherinnen ein Gegenkino, ein narrationsfreies Kino ohne Affekt und Emotion, das die Frau als Objekt und damit den ermächtigenden männlichen Blick, also Schaulust und Genuss im Kino für alle gänzlich zerstören sollte (Mulvey 2004, 1975; Johnston 1973). Feministinnen wollten eine weibliche Ästhetik, die Frauen eine stabile Subjektposition erlaubt. Als großes Vorbild sehen feministische Theoretikerinnen in jüngster Zeit das Frühe Kino (z.B. Gaines 2009; Bean 2002). Mit dem Kino der 1895–1920er Jahre verknüpfen sie offene Produktionsstrukturen, eine attraktionsgesättigte und bedeutungsoffene Ästhetik, die eine Erfahrung für Frauen ermöglicht, die mit dem Aufkommen des klassischen, narrationsdeterminierten Hollywoodkinos wieder versiegt (Schlüpmann 2004, 109).

Gemein ist den Theoretikerinnen des Woman’s Film, dass sie im Anschluss an Mulvey von einem Kino ausgehen, das auf Voyeurismus, Fetischismus und einem idealen Ego basiert und dass sie sich einen männlichen, weißen, europäischen, passiven, durch den Kino-Apparat ideologisch manipulierten, voyeuristisch-sadistischen Zuschauer denken (Williams 1997a). Mit dem Phänomen postfeministischer Populärkultur hat sich allerdings auch der feministische Diskurs um Geschlechterpolitik und Film verschoben. So sind meine Überlegungen nicht von der Frage bestimmt, warum Frauen ins Männerkino gehen, wie sie Koch in ihrem gleichnamigen Aufsatz von 1980 formuliert (Koch 1989 [1980]), sondern von der Frage danach, warum Frauen Chick Flicks sehen. Nichtsdestoweniger sind die feministischen Filmtheorien der 1970er und 1980er Jahre von nachhaltiger Bedeutung sowohl für die Auseinandersetzung mit Kino als Repräsentationssystem als auch für die Zuschauertheorie in der Filmwissenschaft (Williams 1997a, 2, 4).

Der klassische Woman’s Film hat sich weniger durch durchgängige Sujets oder eine einheitliche Ikonographie konstituiert, sondern durch die feministischen Debatten um Frauen und Film. Zwar werden auch mit dem klassischen Woman’s Film konsistente Muster wie etwa die Sujets Liebe und Familie (vgl. u.a. Basinger 1995, 1977; Laplace 1987, 139), das Motiv des Hauses oder eben eine melodramatische Dramaturgie identifiziert (vgl. z.B. Doane 1984; Walsh 1984), doch heben die Ansätze letztendlich auf die Bestimmung der Zuschauerin und ihrer Filmerfahrung ab. Unabhängig davon, ob tatsächlich ausschließlich Frauen den Woman’s Film sahen, definiert dieser sich in erster Linie über die Auseinandersetzung damit, wie die ‚weibliche Adressierung‘ zu bestimmen und die Zuschauerin zu konzipieren sind. Aus dieser Sicht konstituiert sich der Woman’s Film über die Analyse der Schaulust und der Repräsentationsbedingungen von Frauen im Kino. Entsprechend findet das Genre seine übergreifende Einheit in der sich theoretisch konstituierenden diskursiven Zuschauerin, die nichtsdestoweniger in einem sozialen und kulturellen Kontext zu verorten ist (Klippel 2003; Bergstrom/Doane 1989). Die Zuschauerin des klassischen Woman’s Film ist also diskursiver Effekt und nicht mit den sozialen Zuschauerinnen, den Frauen im Kino gleichzusetzen (Doane 1987, 8f.). Wenn Doane von der Angst- und Horrorerfahrung der Zuschauerin spricht, meint sie die kinematographische Repräsentationsebene, d.h. die Art und Weise wie sich Blickstrukturen im Film wiederfinden. Welche Erfahrung die einzelne Zuschauerin macht, steht bei Doane ebenso wenig im Vordergrund wie bei Mulvey. Mit der Reflexion der Zuschauerin bildet auch jene der Filmerfahrung einen zentralen Bezugspunkt feministischer Filmtheorie der 1970er und 1980er Jahre. So gilt das Interesse der Theoretikerinnen – neben der Objektivierung von Frauen und männlicher Blickstrukturen – ‚weiblicher Adressierung‘. Doch was bedeutet ‚weibliche Adressierung‘? Geht man bereits als Frau ins Kino oder erfährt man sich als diese erst durch den Woman’s Film (Kuhn 1987 [1984], 340ff.)? Welche Art von Erfahrung ist angesprochen, wenn es um jene des Horrors oder der Angst geht, von einer sozialen oder ästhetischen? Was bedeutet eigentlich „Zuschauerin“?

Mit Annette Kuhn möchte ich die Wichtigkeit historischer, kultureller und vor allem methodischer Spezifizierung betonen.Abhängig vom Erkenntnisinteresse, wissenschaftlichen Ansatz und Forschungsgegenstand werden ‚weibliche Adressierung‘ und somit auch Geschlechtlichkeit unterschiedlich definiert. Nicht nur hinsichtlich des Woman’s Film produziert die Problematisierung der Zuschauerin unterschiedliche Fragen und Antworten. So stehen mal die diskursiven Ausprägungen von Geschlecht im Vordergrund (Kuhn), mal die ‚tatsächliche‘ Filmerfahrung (Bechdolf 1999). Aus filmwissenschaftlicher Sicht wird das Kino eher anhand der Ästhetik des ‚Textes‘ analysiert, wohingegen in kulturwissenschaftlichen Studien insbesondere zum Fernsehen meistens der Kontext im Vordergrund steht. Wenn Geschlechtlichkeit in Untersuchungen zum Melodrama und der Soap Opera eine je unterschiedliche Bedeutung und Funktion zukommt, stellt sich die Frage, ob die beiden Formate verschiedene Vorstellungen von ‚Frau‘ oder ‚Weiblichkeit‘ hervorbringen, weil sie unterschiedlich funktionieren, oder ob die unterschiedlichen Bestimmungen den einzelnen Ansätzen, nämlich der Literaturwissenschaft und der Soziologie, geschuldet sind. Um adäquate Aussagen zur ‚weiblichen Adressierung‘ bzw. Rezeption machen zu können, muss man die diskursiven Formationen des Sozialen, Kulturellen und Textuellen berücksichtigen (Kuhn 1987[1984], 346f., Laplace 1987).

Bis in die 1990er Jahre hinein prägt ein Text-Zuschauerin-Paradigma die feministische Filmtheorie (Nessel 2008). In den filmwissenschaftlichen Ansätzen zum klassischen Woman’s Film und den kommunikations- und kulturwissenschaftlich geprägten Studien zur Soap Opera werden Film und Fernsehen als zu lesender ‚Text‘ und von der Zuschauerin getrennt vorausgesetzt. Es gibt eine klare Unterscheidung zwischen einem Subjekt, das sieht, und einem Objekt, das gesehen wird. Inwiefern sich diese gegenseitig bedingen, wird bis heute nicht explizit thematisiert. Frauen werden in der Regel als der Filmerfahrung vorgängige, fassbare Subjekte gedacht, deren Erfahrungen durch die Filme zum Ausdruck gebracht werden. Genau darin manifestiere sich die spezifische, ‚weibliche Adressierung‘, welche insbesondere Frauen affiziere. Doch ist es wichtig, zu fragen, inwiefern Filme ein Subjekt überhaupt erst hervorbringen (de Lauretis 1987). Gender ist immer sowohl Repräsentation, Selbstrepräsentation und Konstruktion.[14] Wie Teresa de Lauretis gehe ich von einem fortwährenden Prozess des Subjektwerdens aus, in dem sich das Individuum innerhalb von Repräsentationsbedingungen stets auch selbst als Subjekt repräsentieren muss und sich dadurch zugleich als dieses mitkonstruiert. Folglich sind Repräsentation und Konstruktion nicht voneinander zu trennen. Es gibt also kein der Repräsentation vorgängiges Subjekt. Als Beispiel führt de Lauretis die alltägliche Praxis der Geschlechterdifferenzierung in Formularen an, bei der man sich immer wieder zwischen „weiblich“ und „männlich“ entscheiden und das entsprechende Kästchen ankreuzen muss. In dem Moment, in dem man diese Entscheidung trifft, tritt man in den Repräsentationsprozess ein, in dem man sich selbst repräsentiert und zugleich als geschlechtsbestimmtes Subjekt, zusammen mit den bestehenden Repräsentationsbedingungen der Kästchen, konstruiert (ebd., 5, 11ff.). In diesem Sinne begreift de Lauretis das Kino als ein Repräsentationssystem, als eine soziale Technologie, die Subjekte sowohl repräsentiert als auch hervorbringt. Medien seien technologies of gender, diskursproduzierende Instanzen, die als gesellschaftlicher Verhandlungsort von Bedeutungskonstruktionen fungierten (ebd., 3).

Frauen werden im Film nicht nur repräsentiert, sondern zugleich konstruiert. Chick Flicks bringen die Zuschauerin als Subjekt also erst hervor: „Contrary to the idea of an already fully constituted ‚experiencing subject ‘ to whom ‚experiences happen‘, experience is the site of subject formation.“ (Brah 1996, 116) Das Subjekt ist kein Gegebenes, dem Erfahrungen widerfahren, sondern es sind Erfahrungen, die das Subjekt konstituieren. Dieses Subjekt ist keine geschlossene Einheit, sondern heterogen, prozesshaft und dynamisch. Es formiert sich durch Erfahrungen, welche wiederum durch Diskurse und soziale wie kulturelle Praktiken geprägt sind. Erfahrungen sind in dem Sinne nicht individuell, sondern gesellschaftlich bestimmt (ebd.).
Diese Überlegungen führen zu der Frage, inwiefern auch der gegenwärtige Woman’s Film als ein Genre zu fassen ist, das sich durch eine diskursive Zuschauerin konstituiert. Was meint in Bezug auf den gegenwärtigen Woman’s Film ‚weibliche Adressierung‘? Wie ist hier das Verhältnis zwischen Zuschauerin und Film überhaupt zu begreifen? Was bedeutet im gegenwärtigen Kontext Filmerfahrung?

1.2. Zur Filmerfahrung

In der Filmtheorie stehen die mediale Erfahrungsdimension, insbesondere das Kino und sein Publikum, seit jeher im Zentrum der Reflexionen (Hediger 2010). Angesichts sich verändernder Rezeptionsbedingungen und Medientechnologien rückt der Begriff der Erfahrung vor allem in jüngster Zeit wieder in den Vordergrund, wenn es um die Bestimmung von filmischen Formaten und ästhetischen Verfahren geht (Hansen 2012; Morsch 2011; montage/av 19/1/2010; Casetti 2009). Die Analyse der Filmerfahrung bzw. filmischen Erfahrung (filmic experience) bedeute immer auch die Reflexion von Film- und Kinogeschichte, betont Francesco Casetti (Casetti 2009, 57). Sie ermöglicht es, sowohl die Gegenwart von Geschichte als auch die Geschichtlichkeit der Gegenwart zu untersuchen. Mit Blick auf social media wie YouTube und den Fokus auf die technologische Medienspezifität argumentiert Casetti, dass die heutige filmische Erfahrung viel persönlicher, aktiver und performativer sei als die frühere Erfahrung im Kino (ebd., 63f.).Sie ermögliche der Zuschauerin „to be involved in a truly exploratory way, in order to force eyes and ears to be opened as they are nowhere else“ (ebd., 66).

Zweifellos hat sich mit dem Aufkommen neuer Technologien auch die Nutzung von Medien verändert (Klinger 2006; Hansen 1997), doch ob mit einer ausdifferenzierten Rezeptionsweise zwangsläufig ein ‚aktiverer‘ Blick einhergeht, ist fraglich. Nicht zuletzt hat die Forschung zum Frühen Kino bewiesen, dass sich bereits mit jenen Präsentationsbedingungen und Repräsentationsweisen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Erfahrungsform verbindet, die sich durch einen offenen Spiel- und Denkraum seitens des Publikums auszeichnet. Neben den vielseitigen Produktions- und Distributionszusammenhängen und der gesellschaftlichen Bedeutung des Kinos als Aufführungsort spielt dabei die damit verbundene experimentelle Filmästhetik des Frühen Kinos eine zentrale Rolle (Hansen 1997, 137ff.). Betrachtet man die Ästhetik audiovisueller Formen als wesentlich für die Filmerfahrung, dann gilt es zunächst, deren Wirk- und Ausdrucksweise zu analysieren. Zudem stellt sich die Frage, welche Rolle das mediale Dispositiv für die Betrachtung des gegenwärtigen Woman’s Film spielt. Wie ist das Verhältnis zwischen Zuschauerin und Publikum diesbezüglich zu verstehen? Wie konstituiert sich eine kollektive Erfahrung in einer individualisierten, klassenübergreifenden Konsumwelt? Inwiefern ist mit Blick auf den gegenwärtigen Woman’s Film von einer „neuen Öffentlichkeit“ zu sprechen, wie sie Heide Schlüpmann (Schlüpmann 2004, 109) im Sinn hat?

Heuristisch gehe ich davon aus, dass sich mit dem Genre des gegenwärtigen Woman’s Film eine Erfahrungsdimension realisiert, die gerade in einer vielseitigen und kontinuierlichen Mediennutzung gründet und die sich sowohl auf mobilen Geräten als auch im Kino vollzieht. Ich denke, dass die serielle Re/produktion und die multiplen Rezeptionsmöglichkeiten des gegenwärtigen Woman’s Film das Kino zum Teil einer ununterbrochenen Mediennutzung machen, welche eine Form von Filmerfahrung konstituiert, die sich eher als Fluss denn als eine Abfolge von Erlebnissen begreifen lässt.[15] In diesem Sinne interessiert mich Kino nicht als Ereignis und Ort einer zeitlich und räumlich definierten Wahrnehmungssituation, sondern eher als eine zur Gewohnheit gewordene Erfahrung. Es geht mir um einen bestimmten Rezeptionsmodus, um eine mit Chick Flicks aufkommende Wahrnehmungsweise, die sich medientechnologieübergreifend, d.h. sowohl im Kino als auch auf dem Laptop, in der sinnlichen, ästhetischen Erfahrung realisiert.

Um diese Erfahrungsdimension zu denken, stütze ich mich auf Vivian Sobchacks Medientheorie. Sie ist entscheidend für mein Verständnis von Film, das dieser Studie zugrunde liegt.[16] Als Anwort auf die vor allem psychoanalytischen und ideologischen Ansätze der damals zeitgenössischen Filmtheorie, die ihre Überlegungen an einer idealtypischen Zuschauerin ausrichteten, entwickelt Sobchack einen neophänomenologischen, nach ihren Worten semiotisch-phänomenologischen Ansatz, der die Freiheit der Zuschauerinnen in ihrer „konkreten, kontingenten und existentiellen Situation“ beschreibbar machen soll (Sobchack 1992, 17). In ihrem zum Klassiker der phänomenologischen Filmtheorie avancierten Buch The Address of the Eye (Sobchack 1992) untersucht sie Film als eine spezifische Organisation von Wahrnehmung, als ein spezifisches Verhältnis des Menschen zur Welt, welches ihm überhaupt erst ermögliche, in der Welt zu sein bzw. diese als gegeben zu betrachten. Phänomenologischen Prämissen zufolge gilt Wahrnehmung immer schon als Erfahrung bzw. Wahrnehmungserfahrung (Morsch 2011, 162). Für Sobchack ist Film nur in der sinnlichen Erfahrung denkbar, genauer: als „Ausdruck von Erfahrung durch Erfahrung“, als „‚expression of experience by experience‘“ (Sobchack 1992, 3). Das Kinoerlebnis stellt für sie einen Kommunikationsakt dar, bei dem Film und Zuschauerin sowohl Subjekt als auch Objekt sind, sehen und zugleich angesehen werden. Subjektivität ist auch in Sobchacks phänomenologischer Medientheorie unmittelbar an Erfahrung gebunden und lässt sich ohne diese gar nicht denken. Maurice Merleau-Ponty folgend, begreift Sobchack den Menschen sowohl als Subjekt als auch als Objekt. Als Subjekt nehme er Objekte wahr und werde gleichzeitig selbst als Objekt von anderen Subjekten wahrgenommen. Dieses Verständnis setzt Sobchack in Analogie zur kinematographischen Erfahrung, die sie als dialektischen Kommunikationsprozess (jedoch nicht als Verschmelzung) zwischen Zuschauerin und Film beschreibt. Während der Rezeption nehmen wir nach Sobchack nicht nur das Gesehene wahr, sondern auch den Akt des Sehens; wir hören nicht nur, sondern hören das Hören. Der Film mache sich als Wahrnehmungsakt wahrnehmbar (ebd., 10f.). Sobchack begreift das Kino als Verkörperung von Wahrnehmungs- und Ausdrucksakten, die in einem lebendigen Austausch mit der Zuschauerin stehen. Film wird dabei nicht als Objekt oder zu entziffernder Text verstanden (wie bei einem kommunikationswissenschaftlichen Sender-Empfänger-Modell), sondern eben als Ausdruck von Erfahrung durch Erfahrung. Im Anschluss an Merleau-Pontys Konzept des Leibes als Vehikel zur Welt sind für Sobchack Ausdruck und Erfahrung untrennbar – wenn auch unterscheidbar – miteinander verwoben und konstituieren gleichermaßen die Filmerfahrung. Damit distanziert sie sich dezidiert sowohl von den formalistischen Ansätzen, die ihrer Meinung nach nur die Ausdrucksseite untersuchen und dadurch die Wahrnehmung vernachlässigen, als auch von jenen, die sich der Metapher des Kinos als Fenster zur Welt bedienen (wie etwa die realistische Filmtheorie Bazins) und damit den Ausdruck von Film ausblenden (ebd., 14ff.).

Die von Sobchack hervorgehobene körperliche Erfahrungsdimension im subjektiven Wahrnehmungsprozess meint allerdings nicht (ebenso wenig wie das Erfahrungskonzept von Avtar Brah) das individuelle Erleben einer jeden Zuschauerin, sondern einen intersubjektiven Kommunikationsprozess, welcher dem Film, d.h. der Filmrezeption eingeschrieben ist. Da die ständigen Wechselbeziehungen von Ausdrucks- und Wahrnehmungsakten nach Merleau-Ponty grundlegend für die durch die beiden Pole Subjekt und Objekt definierte leibliche Existenz des Menschen sind, werden die subjektiven Erfahrungen immer schon als objektiv kommunizierbar verstanden. Es ist also nicht von rein innerlichen Bewusstseinsprozessen die Rede. Wahrnehmung wird immer schon zugleich als Ausdruck und damit als Anderen zugänglich gefasst. Von daher begreift Sobchack die Kommunikation im Kino als intersubjektiv und objektiv. Sie zielt auf eine formale Analyse des Films ab, die nicht losgekoppelt von der Wahrnehmungsweise durchgeführt werden kann. Inhalt und Form sind demnach nicht zu trennen. Und wenn Wahrnehmung uns überhaupt erst ermöglicht, in der Welt zu sein, erfassen phänomenologische Filmanalysen immer schon eine Dimension sozialer Erfahrung. Daher konzentriert sich Sobchack in ihren Analysen auf die innere Logik von Filmen, anstatt ihre Bedeutung vor allem anhand ‚äußerer‘, historischer Faktoren erklären zu wollen (Sobchack 1998, 130).

Sobchacks Ansatz impliziert eine neue Form von Wahrnehmung, die mit audiovisuellen Ausdrucksformen einhergeht. Sie setzt voraus, dass Film etwas bereits Existierendes offenlegt und nicht völlig neue Welten schafft. Damit ist jedoch keineswegs ein Abbildverhältnis angesprochen, das sich nach einer wie auch immer beschaffenen Indexikalität richtet. Vielmehr geht es um spezifische Wahrnehmungsweisen und Perspektiven auf die Welt, die der Film erlaubt, um die Dialektik zwischen Geist und Materie, Bewusstsein und Verkörperung zu erforschen (Koepnick 2011, 121). Wenn Sobchack die soziale Dimension des Kinos betont, impliziert dies allerdings nicht eine Gleichsetzung von ästhetischer mit alltäglicher Erfahrung. Im Gegenteil betont sie (u.a. mit Verweis auf Siegfried Kracauer und Walter Benjamins „Optisch Unbewusstem“), dass Filmerfahrung eine Erfahrung ermögliche, die uns im Alltag verborgen bleibt (Sobchack 1992, 183). Nach Sobchack erleben wir im Kino etwas, das sich außerhalb nicht wahrnehmen lässt. Während wir im Alltag allein das Sehen Anderer als Ausdruck wahrnehmen könnten, sähen wir im Film außerdem das Gesehene selbst. Damit ist nicht die Wahrnehmung einer Wahrnehmung eines Individuums gemeint, sondern jene des Films, eine Wahrnehmung, die nicht die eigene ist, aber als ‚eigene‘, bedeutende erfahren wird. Film vermittelt demnach eine spezifische Binnenperspektive, wie wir sie in der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht erleben können, sondern uns über den Ausdruck erschließen. D.h. während wir im Alltag beispielsweise aufgrund weit aufgerissener Augen darauf schließen können, dass jemand etwas Furchterregendes sieht, können wir im Kino das Gesehene selbst sehen bzw. ‚nachempfinden‘. Wir sehen, was jemand anderes sieht und auf welche Weise. Film vermittelt eine Wahrnehmung, die nicht die unsere ist, sondern die einer Anderen, eines anonymen Ich, dessen äußere Körperlichkeit wir nicht sehen und auch nicht sehen müssen, um sie wahrzunehmen, denn aufgrund der gewohnten Kommunikationsakte und der eigenen Erfahrung des Körper-Habens und Körper-Seins schließen wir zwangsläufig auf eine subjekthafte Körperlichkeit, wenn wir etwas Wahrgenommenes wahrnehmen. (Sobchack 1992, 278; vgl. auch Sobchack 2004, 66)

Film wird in der phänomenologischen Medientheorie nicht länger bloß als Objekt, als aufgenommene (gesehene) Bilder definiert, sondern zugleich als Subjekt, als sehend. Er verkörpert somit sowohl unmittelbare als auch vermittelte Erfahrung (Sobchack 1997, 41f.). Filmerfahrung ist nach Sobchack also weder mit einer diegetischen, innerhalb einer Handlungslogik agierenden Figur zu verknüpfen, noch mit Alltagserfahrung gleichzusetzen.

Mit Sobchack argumentiere ich, dass sich die Filmrezeption nicht ohne die sinnliche Erfahrungsdimension verstehen lässt bzw. dass eben Film an sich immer schon Filmerfahrung bedeutet. D.h. meine Filmanalysen heben nicht darauf ab, die Vermittlung einer ‚Botschaft‘ durch einen auteur oder das kognitive Verstehen zu rekonstruieren. Genauso wenig geht es mir darum, ein empathisches Verhältnis zu einer filmischen Figur zu behaupten und nachzuzeichnen. Vielmehr soll in Anlehnung an Sobchack die Wahrnehmung des gesamten filmischen Ausdrucks, die dynamischen Verhältnisse von Farbqualitäten, Soundintensitäten, Dialogen, Kamerabewegungen, Kadrierungen, mise en scène und Montage, untersucht werden. Allerdings ist mein Fokus ein anderer. Denn meine Arbeit zielt – anders als Sobchack, die sich auf einer allgemeineren Ebene bewegt – darauf ab, eine genrespezifische Filmästhetik herauszuarbeiten, d.h. eine besondere Wahrnehmungsweise, mit welcher die Zuschauerin konfrontiert wird. Mit Sobchacks Medientheorie fokussiere ich die sinnliche Erfahrung des gegenwärtigen Woman’s Film. Während die feministischen Theorien um den klassischen Woman’s Film sich auf eine Erfahrungsdimension bezogen haben, die sich als Filmtext ausdrückt, also auf die Art und Weise, wie die reale Erfahrung von Frauen Eingang in die Filme gefunden hat und inwiefern diese die patriarchalen Bedingungen widerspiegeln und zugleich mitkonstruieren, hebe ich auf eine Erfahrungsdimension ab, die sich als Filmerfahrung in dem Rezeptionsprozess vollzieht und die in diesem Sinne immer schon eine Dimension sozialer Erfahrung umfasst.

Während für Sobchack Differenzierungskategorien wie die Kategorie ‚Frau‘ keine Rolle spielen, da sie sich bewusst gegen ‚ideologische‘ Ansätze wendet, stehen sie in meiner Studie im Mittelpunkt. Davon ausgehend, dass Film im Grunde immer schon Filmerfahrung meint, verbinde ich die feministischen Theorien mit Sobchacks phänomenologischem Repräsentationsverständnis und analysiere die sich in der Filmerfahrung realisierende Geschlechterdifferenz.

1.3. Genre und Gender

Im Alltag wie in der Filmwissenschaft herrscht eine mehr oder weniger explizite Einteilung in männliche und weibliche Genres vor. So gilt gemeinhin das Melodrama als Woman’s Film, der Western als Männergenre und der Actionfilm eher als ‚neutral‘. Außerhalb der Forschung zum Woman’s Film werden dabei die kulturellen und historischen Bedingungen der geschlechtsspezifischen Zuordnungen nur selten reflektiert. Wenn etwa hinsichtlich der Romantic Comedy vom ‚Frauen-Genre‘ die Rede ist, da sich diese durch das typisch weibliche Sujet der Liebe auszeichne, bleiben die dieser Annahme zugrunde liegenden Prämissen in der Regel unbeleuchtet. Zudem wird kaum reflektiert, inwiefern ‚Männergenres‘ wie der Western als ernst zu nehmende Filmproduktionen gelten, wohingegen ‚Frauen-Genres‘ als Gefühlsduselei belächelt werden. Eine bestimmte Vorstellung von ‚Kunst‘ wird hierbei jener der ‚Unterhaltung‘ gegenübergestellt, ein kognitives Verstehen einer emotionalen Resonanz. Produktionen, die die Zuschauenden besonders stark affizieren, wie eben das Melodrama (weepie), werden oftmals Filmen gegenübergestellt, die offensichtlich ‚rationale‘, ‚politische‘ Konflikte oder historische Ereignisse thematisieren, wie eben der Western oder der Kriegsfilm. Ausnahmen hierzu bilden die Arbeit Daniel Illgers zum Gangsterfilm (Illger 2009) sowie ein Aufsatz und ein Sammelband zum Kriegsfilm (Kappelhoff/Gaertner/Pogodda 2013; Grotkopp/Kappelhoff 2012). In diesen Arbeiten stellt die affizierende Dimension der ‚Männergenres‘ den Ausgangspunkt der vertretenen Ansätze dar, wenngleich die Katgeorie Geschlecht eine untergeordnete Rolle spielt. Des Weiteren ist Christine Gledhill zu nennen. Sie analysiert die kulturelle Matrix, die von clusterhaften Gegenüberstellungen wie „männlich/Hochkultur/Kunst“ versus „weiblich/Massenkultur/Unterhaltung“ hervorgebracht wird. Dabei betont sie, dass der Western mittlerweile als ‚Kunst‘, d.h. als ‚ernsthaftes Genre‘ anerkannt werde, während man die Soap Opera immer noch als ‚pure Unterhaltung‘ belächele (Gledhill 1987a, 33ff.). In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass sich trotz der in den vergangenen Jahren zunehmenden allgemeinen sowie wissenschaftlichen Bedeutung von Fernsehserien, die inzwischen auch verstärkt bei einem männlichen Publikum auf Zuspruch stoßen, die geschlechtsspezifische Wertung wenig gewandelt hat. So gelten Frauen-Serien wie Gossip Girl (USA 2007–2011, Stephanie Savage, Josh Schwartz) oder Sex and the City nach wie vor außerhalb von feministischen Auseinandersetzungen überwiegend als Unterhaltung bar jeglichen ernst zu nehmenden Reflexionspotentials.

Es stellt sich also die Frage, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen sich geschlechtsgeleitete Genrekategorisierungen vollziehen und transformieren. Kurz: Wie ist das Verhältnis von Genre und Gender zu fassen? Vor dem Hintergrund der sich ändernden Zuschauerinnenschaft (z.B. dass Soap Operas wie Dallas Frauen wie Männer gleichermaßen ansprechen) und vor jenem der Ästhetik (z.B. dass Action-Elemente auch in Soap Operas auftauchen), ist zu untersuchen, ob sich die Genreformen ändern oder die Kategorien weiblich und männlich oder beides (Gledhill 1997, 349f.). In der filmwissenschaftlichen Genreforschung wird in der Regel von Genre auf Gender geschlossen und nicht umgekehrt. Die Schlussfolgerung lautet normalerweise so: Weil es ein Western ist, geht es um Männer bzw. ist es ein ‚Männer-Genre‘. Es wird kaum untersucht, inwiefern Gender die Sicht auf Genre beeinflusst (Blaseio 2004). Selten heißt es: Aufgrund einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit, wie z.B. jener des ‚einsamen Wolfs‘, gilt der Western als ‚Männer-Genre‘.

Dass sich Genres fortlaufend transformieren, ist seit dem historical turn in den 1990er Jahren Gemeinplatz in der Genreforschung. Gerade die jüngere Forschung zum Genrekino setzt sich mit der Prozesshaftigkeit und Transformativität von Genres im historisch-kulturellen Kontext auseinander (z.B. Hickethier 2003; Schweinitz 1994; Neale 1990). Doch wie und aus welchem Grund sich Wandlungsprozesse vollziehen, bleibt weitestgehend unterbeleuchtet (Wedel 2007, 32).[17] Ich gehe davon aus, dass sich mit der Konstitution von Genres gesellschaftliche Veränderungen ereignen. Zudem denke ich umgekehrt, dass sich mit der Transformation sozialer Kategorien und kultureller Vorstellungen notwendigerweise eine Neubestimmung von Genres verbindet. Genre und Gesellschaft sind im Prinzip nicht voneinander zu trennen. Genre begreife ich nicht als Ausdruck oder Effekt gesellschaftlicher Veränderungen, sondern im Anschluss an Vivian Sobchacks Filmkonzept als eigensinnige Formen, die immer schon Teil gesellschaftlich begründeter Erfahrung darstellen. Film ist also nicht außerhalb einer sozialen Realität zu verorten, zu der dieser in einem wie auch immer gearteten Verhältnis steht. Massenmedien sind selbst als Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Wertediskurse zu betrachten. In diesem Sinne ist der gegenwärtige Woman’s Film als Repräsentation wie Produktion der Bedeutung von Geschlechterdifferenzen zu verstehen. Genre – wie Gender – stellt damit sowohl ‚Ursache‘ als auch ‚Effekt‘ sozialer und kultureller Verhältnisse dar und ist entsprechend nur in seiner Transformativität und Historizität zu fassen (Liebrand 2004a; Liebrand/Steiner 2004; Schneider 2001, vgl. auch Braidt 2008, 88). Gleichwohl in dieser Studie weiterhin – oder wieder – vom Woman’s Film die Rede ist, meint diese Zuschreibung doch etwas anderes als noch vor rund vierzig Jahren. Zum einen hat sich die damit bezeichnete Filmästhetik verändert und zum anderen die Bedeutung und Funktion der Kategorie ‚Frau‘.

Erst in jüngster Zeit gibt es vermehrt medienwissenschaftliche Arbeiten, die sich seit dem Diskurs um den klassischen Woman’s Film dezidiert mit dem Verhältnis von Gender und Genre auseinandersetzen und in seinen jeweiligen Ausformungen beschreiben (Gledhill 2012; Braidt 2008; Liebrand/Steiner 2004; Gledhill 2004; Schneider 2001; Williams 1998). Dabei fällt auf, dass die ästhetische Erfahrungsdimension – wie insgesamt in der kulturwissenschaftlich geprägten Diskussion um Chick Flicks, Postfeminismus und Populärkultur – meist eine untergeordnete Rolle spielt, wenngleich es auch in diesem Zusammenhang um die Frage nach der ‚Adressierung‘ und der ‚Positionierung‘ der Zuschauerin geht. Obwohl sich die Analysen der wertenden Ordnungslogik geschlechtlicher Genrezuschreibungen an der Wahrnehmung orientieren, stehen Motivik und Sujet im Vordergrund der Forschung. Ziel meiner Studie ist es, ein Genrekonzept zu erarbeiten, welches das Verhältnis von Gender und Genre aus medientheoretischer Sicht reflektiert und die variable Bedeutung der Kategorie ‚Frau‘ anhand der spezifischen Filmerfahrung des gegenwärtigen Woman’s Film in einem konkreten Kontext fassbar macht.

Im Folgenden stelle ich zwei filmwissenschaftliche Ansätze vor, die für meine genretheoretischen Überlegungen wichtig sind. Sie sollen helfen, meinen ästhetischen Ansatz zu Genre und Gender einordnen zu können. Mit Linda Williams’ Konzeption der Body Genres (Williams 1991) und Andrea Braidts Modell des Film-Genus (Braidt 2008) zeige ich zwei Positionen auf, die mir in ihrer Gegensätzlichkeit sowohl zur Abgrenzung als auch zur Weiterentwicklung eines Genre-Gender-Ansatzes dienen. Sie bilden die heuristischen Pole meiner Perspektivierung.

1.3.1. Zum psychoanalytisch-phänomenologischen Zuschauerinnenmodell

Bis heute stellt Linda Williams’ Aufsatz „Film Bodies. Gender, Genre, and Excess“ (Williams (2003 [1991]; Williams 1991) einen entscheidenden Bezugspunkt für filmwissenschaftliche Theorien zu Genre und überhaupt zur kinematographischen Affektgestaltung dar.[18] Ausgehend von Carol Clovers Konzept der Body Genres (Clover 1993) reflektiert Williams in dem Text die Affektgestaltung von Filmtypen, in denen die Narration in den Hintergrund tritt und das Sensationelle in Form von extatischer Körperlichkeit („bodily excess“ bzw. „ecstatic excesses“, Williams 1991, 4) im Zentrum steht und die daher vor allem leiblich erfahrbar werden (ebd., 2). Dazu zählt sie den Horrorfilm, den pornographischen Film und das Melodrama.

Bei diesen Genres bzw. Filmtypen vollzieht sich die Filmrezeption für Williams weniger auf kognitiver denn auf affektiver Ebene. Ihres Erachtens verbindet sich mit Body Genres eine exzessive Erlebnisform, die keinerlei Distanz zum Geschehen erlaubt. Obgleich Williams erkennt, dass auch andere Genres wie der Thriller, das Musical oder die Komödie „both portray and affect the sensational body“ (ebd., 4), nimmt sie an, dass sich die Rezeption des Horrorfilms, des pornografischen Films und des Melodramas auf besonders körperliche Art vollzieht. Sie begründet dies mit der mimetischen Rezeptionsweise, welche den Body Genres eigen sei (ebd., 4). Obgleich Williams nicht behauptet, dass die Zuschauenden genau dasselbe wie die Filmfiguren empfinden und sie Emotionen also nicht ausdrücklich an Figuren bindet, sieht sie eine große Ähnlichkeit zwischen filmisch dargestellten und tatsächlich erlebten Gefühlen. Inwiefern allerdings ‚portraitierte‘ und ‚reale‘ Emotionen korrelieren, spielt für Williams eine untergeordnete Rolle. Damit setzt sich Hermann Kappelhoff im Anschluss an Williams ausführlich in seinem Buch Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit auseinander (Kappelhoff 2004). Darauf werde ich im Verlauf dieses Kapitels erläuternd eingehen. Für Williams steht im Vordergrund, dassBody Genres eine extreme Affizierung bewirken. Nach ihr bestimmt weniger die bewusste Wahrnehmung des weiblichen Leinwandkörpers das Filmerleben der Zuschauerin, als vielmehr das Nachempfinden der durch die Figuren dargestellten Empfindung (Williams 2003 [1991], 153f.). Während bei der Komödie an Stellen gelacht werde, die für die Protagonistin alles andere als komisch sind, empfinde die Zuschauerin Traurigkeit, wenn auch im Melodrama Trübsinn herrsche (vgl. auch Greifenstein 2013).

Anhand des Horrorfilms, der eine Zeitlichkeit des „zu früh“ inszeniere (das Monster erscheint zu früh am Ort des Geschehens), des pornografischen Films, dessen Struktur sich durch ein „pünktlich“ (money shot) auszeichne, und des Melodramas, das sich an einem „zu spät“ ausrichte (die Heroine erscheint zu spät zum entscheidenden Treffen und verpasst den Geliebten) skizziert Williams eine je zeitlich spezifizierte Ästhetik des Body Genres (vgl. Williams 1991, 11). Diese entfalte sich entlang des weiblichen Filmkörpers in dem Filmerleben der Zuschauenden („the sexually ecstatic woman, the tortured woman, the weeping woman – and the accompanying presence of the sexual fluids, the blood, the tears that flow from her body and which are presumably mimicked by spectators“, Williams 1991, 5f.). Auf der Ebene der Affektgestaltung stellt sich dies nach Williams folgendermaßen dar: Gemäß Hitchcocks Credo „Torture the women!“ inszeniere der Horrorfilm vor allem Gewalt und Terror, der pornografische Film Orgasmen und das Melodrama Weinen. Entsprechend erlebe das Publikum Angst und Terror, sexuelle Lust oder Traurigkeit (Williams (2003 [1991]), 142).

In ihren Überlegungen zu Emotionen im und durch Film unterscheidet Williams implizit zwischen körperlichem Ausdruck (Weinen) und Empfindung (Trauer). Dabei situiert sie den Zusammenhang zwischen inszenierten Emotionen und Empfindungen seitens der Zuschauerin im Bereich der durch Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis psychoanalytisch definierten Phantasietätigkeit und verweist darauf, dass es einer näheren Analyse der Affizierung bedarf (Williams 1991, 12). So finden sich Ursache und Wirkung hinsichtlich der allgemeinen Konstitution von Emotionen bei ihr nicht weiter reflektiert und der Prozess der kinematographischen Affizierung bleibt angedeutet. Für Williams scheinen einerseits körperliche Reaktionen Emotionen vorauszugehen, d.h. zuerst setzt das Weinen ein, dann die Trauer. Andererseits spricht sie davon, dass die Inszenierung von Trauer Weinen seitens des Publikums evoziere. Allerdings sind die gegenwärtigen Debatten um das Verhältnis von körperlichem Ausdruck, Empfindung und Medien (z.B. Grau/Keil 2005) für Williams Nebensache. Ob die Zuschauerin das Weinen einer Figur im Film nachahmt und dadurch affiziert wird, ob sie die durchaus auch unabhängig von einer einzelnen Figur inszenierte Trauer nachempfindet und deshalb weint oder ob beide Bewegungen sich zugleich realisieren, bleibt offen. Williams erklärt:

Whether this mimicry is exact, e.g., whether the spectator at the porn film actually orgasms, whether the spectator at the horror film actual shudders in fear, whether the spectator of the melodrama actually dissolves in tears, the success of these genres seems a self-evident matter of measuring bodily response. (Williams 1991, 4f.)

Im Gegensatz zu Vivian Sobchack, deren Anspruch in der Begründung einer allgemeinen Medientheorie liegt, ist für Williams entscheidend, dass bestimmte Filmtypen auf eine spezifische Art und Weise Körperlichkeit inszenieren, durch welche das Publikum besonders stark affiziert wird. Ihr Ansatz hebt nicht auf eine Kategorisierung von geschlechtsspezifischen Zuschauerinnenpositionen ab. Williams kommt zu dem Schluss:

[…]: these ‚gross‘ body genres which may seem so violent and inimical to women cannot be dismissed as evidence of a monolithic and unchanging misogyny, as either pure sadism for male viewers or masochism for females. Their existence and popularity hinges upon rapid changes taking place in relations between the ‚sexes‘ and by rapidly changing notions of Gender – of what it means to be a man or a woman. (Ebd., 12)

Auch Williams betont die sich in einem fortwährenden wechselseitigen Transformationsprozess konstituierende Bedeutung von Genre und Geschlecht. Wenngleich Williams in ihrem Aufsatz verschiedene Affektmodi herausarbeitet, unterstreicht sie, dass diese sich überlappen und ineinandergreifen. Body Genres begreift sie als sich aufeinander beziehende Teile eines Affektsystems (vgl., 8f.). Williams stellt sich ausdrücklich gegen die Annahme, dass Filme eine eindeutige (geschlechtsspezifische) Adressierung vornehmen bzw. verweigern – wofür die feministische Theorie der 1970er und 1980er Jahre zu recht kritisiert wurde.

Indem Williams die verschiedenen Affizierungsprozesse aufeinander bezieht und in einen Gesamtzusammenhang stellt, eröffnet sie eine Perspektive, die in der filmwissenschaftlichen Genreforschung eine Ausnahme darstellt. Obgleich in der Forschung immer wieder davon die Rede ist, Genres seien aufgrund ihrer Verbundenheit nur in ihrer Gesamtheit zu betrachten und nicht als einzelne Phänomene (u.a. Neale 1990, Altman 1984), untersucht der überwiegende Teil der Theoretikerinnen Filme als einzelnen Genres zugehörig und analysiert Medienproduktionen rein textimmanent. Der Zusammenhang mit anderen Genres wird selten reflektiert. Ein Vergleich mit anderen medialen Erscheinungsformen steht in der Regel aus. Ausnahmen bilden bezüglich des letzteren Arbeiten zur Soap Opera und zum Radio (Brunsdon 1997) sowie zum Musikfilm und zum Musiktheater (Wedel 2007). Zwar wird immer wieder auf die Hybridität von Genres verwiesen (Gledhill 2000; Berry-Flint 1999; Staiger 1997; Neale 1990; Sobchack 1980), doch eine entsprechende Studie erfolgt in der Regel nicht. Theoretische Fragen weichen allgemeinen Analysen von narrativen Mustern, Ikonografien, ideologischen Geschichtsbildern oder der Autorenschaft. Oft wird die Entstehung bzw. die Produktion von Genres mit marktstrategischem Kalkül erklärt.

Für Williams ist die abbildliche Repräsentation weit weniger bedeutend als die Art und Weise, wie eben jene weiblichen Körper inszeniert werden. Sie schreibt:

But this victimization is very different in each type of film and cannot be accounted for simply by pointing to the sadistic power and pleasure of masculine subject positions punishing or dominating feminine objects. (Williams 1991, 6)

Entgegen der filmwissenschaftlichen Forschung, die den Horrorfilm mit einer sadomasochistischen, den pornografischen Film mit einer männlich-sadistischen und den Woman‘s Film mit einer weiblich-masochistischen Rezeptionsweise verbindet (vgl. Williams 2003 [1991], 149ff.), stellt Williams eine geschlechtlich uneindeutige Erfahrungsdimension heraus. Mit Blick auf die Phantasietätigkeit zeichnet ihr zufolge alle drei Genres ein spannungsvolles, dynamisches Filmerleben aus, welches sich zwischen den Polen aktiv/passiv, männlich/weiblich und sadistisch/masochistisch erstreckt und eine Identifikation mit verschiedenen Figuren zulässt (ebd.). Für sie stellt der Rezeptionsprozess nicht unbedingt ein identifikatorisches oder empathisches Verhältnis der Zuschauerin zu einer einzelnen Figur dar. Auch aufgrund der sich wandelnden „generischen und geschlechtlichen kulturellen Formen“ (Williams 1991, 12) sei es ausgeschlossen, eine stabile Zuschauerinnenposition zu definieren. Folglich können Genres nicht einfach als ‚feministisch‘ oder ‚anti-feministisch‘, ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ qualifiziert werden.
Indem Williams herausarbeitet, wie ein genussvolles Filmerleben möglich sein kann, wenn die Zuschauerin mit einer zum Opfer gemachten Frau konfrontiert ist, stellt sie die grundlegende Kritik der feministischen Filmwissenschaft der 1970er Jahre infrage, dass das Kino den weiblichen Körper bloß als Spektakel ausstelle und die Frau zum Objekt degradiere und somit allein die Schaulust des heterosexuell orientierten männlichen Zuschauers befriedige (Mulvey 2003 [1975]). Stattdessen betont sie die durch die affizierenden Genres ermöglichte Phantasietätigkeit. Phantasie spielt, wie bereits in den Ausführungen zur feministischen Filmtheorie der 1970er und 1980er Jahren erwähnt, für feministische Ansätze eine wichtige Rolle, um die Erfahrung von Frauen beschreibbar zu machen und die Instabilität von Identitäten und Kategorien hervorzuheben, die in Debatten um Realismus nicht berücksichtigt wird (vgl. auch Williams 1991, 3; sowie Scott 2011; Schlüpmann 2007). Auf die Phantasie bzw. die Schaulust der Zuschauerin (und der Leserin) wird in Auseinandersetzungen mit Massenmedien verwiesen, wenn es zu erläutern gilt, weshalb Fernsehserien oder Bücher, die gemeinhin als kitschig oder gar anti-feministisch abgetan werden, nichtsdestoweniger auf hohen Zuspruch bei Frauen stoßen (z.B. Ang 1985; Radway 1984).

Die extreme körperliche Wirkung begründet Williams mit ihrer eigenen Filmerfahrung und entwickelt so einen ähnlich ausgerichteten phänomenologischen Ansatz wie Sobchack (Williams 2008). Während Sobchack jedoch explizit auf ein Zuschauerinnenmodell abzielt, geht es Williams vor allem um die Filme, in denen sie eine besondere Möglichkeit sieht, sich auf „Gender fantasy“ (Williams 1991) zu beziehen. Für Sobchack fallen letztendlich die ästhetische und die soziale Erfahrung zusammen, gleichwohl sie herausarbeitet, dass das Kino eine besondere Wahrnehmungsweise erlaubt, die sich von der alltäglichen klar unterscheidet. Sie geht von einer unmittelbaren (vermittelten) Erfahrung aus, wenn sie betont, dass das Kino aus phänomenologischer Sicht keine Als-ob-Erfahrung konstituiert, sondern eine reale-sinnliche Erfahrung. In Williams Ausführungen bleibt hingegen unklar, inwiefern sich das Filmerleben von der Alltagswelt unterscheidet.

Während Sobchack die affektive Dimension in ihren genretheoretischen Überlegungen jedoch überraschenderweise weitestgehend ausblendet (Sobchack 1997; 1982; 1980; 1975), bildet diese für Williams den Ausgangspunkt zur Analyse geschlechtsbestimmter Inszenierungsweisen. Im Anschluss an beide Theoretikerinnen möchte ich konkret untersuchen, welche ästhetischen Formen von Affizierung die verschiedenartigen Inszenierungen von Geschlecht hervorbringen. Darüber hinaus frage ich danach, was Geschlecht in den jeweiligen Filmen meint und wie es sich durch diese überhaupt konstituiert. Anders als Williams, die auf die Phantasietätigkeit verweist, befrage ich dezidiert die Filme nach den „relations between the ‚sexes‘ and by rapidly changing notions of Gender – of what it means to be a man or a woman“ (Williams 1991, 12).

Mit der Konzeption von Genre durch die Filmerfahrung distanziere ich mich von einem psychoanalytisch angelegten Zuschauerinnenmodell, das dichotome Begriffspaare wie aktiv/passiv oder männlich/weiblich voraussetzt. Stattdessen analysiere ich die genrespezifische Affektdramaturgie. Mit meiner Studie zum gegenwärtigen Woman’s Film und dem Fokus auf die Figureninszenierung suche ich eine Erfahrungsdimension herauszuarbeiten, die gerade nicht in einem als identifikatorisch oder empathisch gedachten Verhältnis zwischen Zuschauerin und Figur gründet und die daher eben nicht auf die Darstellung der Protagonistinnen abhebt. Figuren werden demnach nicht als psychologische Entitäten gefasst, sondern in ihrer kinematographischen Konzeption als unablösbarer Teil einer audiovisuellen Ausdrucks- und Wahrnehmungsgestaltung. So gilt es nicht, eine diegetische, innerhalb einer Handlungslogik agierende Figur zu analysieren, sondern die filmische Raumzeitgestaltung einer Figur, die Affektdramaturgie, die sich mittels der Inszenierung der Protagonistinnen vollzieht. Deshalb ist auch von einem Figurentypus, der weißen, heterosexuellen, jungen Single-Frau, und nicht von einem psychologisch greifbaren, empfindenden Charakter die Rede. Beispielsweise untersuche ich in Legally Blonde, auf welche Weise die mit der Protagonistin sich aufdrängende Pinkheit das Erleben der Zuschauerin beeinflusst. Von Interesse ist dabei nicht, ob man sich ähnlich wie die Hauptfigur verhalten würde oder ob die Handlung einer Alltagslogik entsprechend nachvollziehbar ist. Das meinen Filmanalysen zugrunde liegende Figurenkonzept werde ich in dem nachfolgenden, filmanalytischen Kapitel 2 eingehend erläutern.

In der Analyse des gegenwärtigen Woman’s Film gehe ich davon aus, dass sich anhand formalästhetischer Filmanalysen Aussagen zur kinematographischen Wahrnehmung von Genre und Gender machen lassen, ohne die einzelne Zuschauerin befragen zu müssen. Dies steht theoretisch in starkem Gegensatz zu dem Konzept des Film-Genus von Andrea Braidt. Dieses hebt nämlich auf eine Methode zur Reflexion von Gender und Genre ab, die die sozialwissenschaftliche Befragung von Zuschauerinnen als entscheidend voraussetzt. In der Auseinandersetzung mit Braidts Konzept des Film-Genus möchte ich die Problemfelder gegenwärtiger Forschung zu Genre- und Gender-Theorien in der Film- und Medienwissenschaft näher erläutern. Ihr Versuch, Film und Zuschauerin durch Datenerhebungen gleichermaßen in den Blick zu bekommen und somit die ‚tatsächliche‘ Erfahrung zu erfassen, schließt unmittelbar an Fragen der feministischen und der allgemeinen Filmtheorie an: Wie ist das Verhältnis zwischen theoretischer und sozialer Zuschauerin zu begreifen? Welche Bedeutung kommt der kinematographischen Wirkmacht zu und welche Rolle spielen die Prädispositionen des Publikums? Wie ist die Filmerfahrung der Zuschauerin empirisch greifbar? Und nicht zuletzt: Was meint Filmerfahrung überhaupt?

1.3.2. Zum neoformalistisch-empirischen Zuschauerinnenmodell

Andrea Braidts Buch Film-Genus. Gender und Genre in der Filmwahrnehmung (Braidt 2008) stellt neben Williams’ Body Genres (Williams 1991) einen der wenigen Ansätze dar, der sich umfassend theoretisch und methodisch mit dem dynamischen Verhältnis von Gender und Genre auseinandersetzt. Bevor Braidt ihre Methode ausführt, gibt sie einen guten Überblick über die in diesem Zusammenhang relevanten feministischen Positionen der Filmwissenschaft und erklärt, weshalb es eines neuen Ansatzes bedarf (Braidt 2008, 74–89). Durch die Aufzählung wird offensichtlich, dass alle Ansätze Genre wie Gender als variable Größen in ihren Untersuchungen verstehen und ihr Verhältnis als dynamisch begreifen. Dieses Verständnis liegt den verschiedenen Studien mehr oder weniger explizit zugrunde. Jedoch wird kaum reflektiert, wie die Beziehung zwischen Gender und Genre entsprechend theoretisch gefasst werden kann. Diesem Desiderat nimmt sich Braidt mit ihrer Methode an. Braidt geht davon aus, dass die Wahrnehmung von Gender durch das jeweilige Genre bestimmt wird und umgekehrt. Sie schreibt:

Was etwa als ‚männlich-adäquates‘ Verhalten in einem Western als plausibel und nachvollziehbar wahrgenommen wird, wird in einem Musical irritieren. Die Wahrnehmug von Gender (das Geschlecht der im Film handelnden Personen etc.) funktioniert, so meine These, über die Wahrnehmung des Filmgenres. Diesen Wahrnehmungszusammenhang fasse ich im Terminus ‚Film-Genus‘. (Braidt 2008, 8)

„Film-Genus“ bezeichnet für Braidt also die methodische Prämisse, dass Genre und Gender in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. Sie versucht einen Ansatz zu entwickeln, mittels dessen man dieses als maßgeblich für die Filmwahrnehmung fassen kann. Braidt geht es folglich nicht um die Repräsentation von Geschlecht im Genrekino, sondern um die Relation zwischen Genre und Gender. Die Art und Weise, wie Geschlechtlichkeit wahrgenommen bzw. verstanden wird, hängt für sie von dem jeweiligen Genre ab.

Als Antwort auf die Kritik an a-historischen und a-ästhetischen feministischen, insbesondere psychoanalytisch geprägten Theorien, entwickelt Braidt ein Forschungsdesign, um „eine Basis für die empirische Erforschung dieses Zusammenhangs zu schaffen“ (ebd.). Nach Braidt gilt es, die ‚Adressierung‘ und die ‚tatsächliche‘ Erfahrung der Zuschauerin gleichermaßen zu berücksichtigen. Ästhetische Filmanalysen sollen als „methodische[r] Zwischenschritt“ (ebd., 123) mit qualitativen Interviews konfrontiert werden.

Mit David Bordwell verfolgt Braidt einen neoformalistischen Ansatz, der es erlaubt, die filmische Narration mittels cues, Hinweisen, kognitiv nachzuvollziehen. Die Filmrezeption wird dabei als bewusstseinsgesteuerter Prozess definiert, sodass affektive Zusammenhänge außen vor bleiben. So schreibt Braidt beispielsweise zu Die Another Day (USA 2002):

Die Skorpione wirken zahm, ihr Scherenklicken abstrahiert und künstlich (weil im Takt mit der Musik), die teilweise umgesetzten Drohungen der Folterschergen werden visuell so ästhetisiert, dass sie nicht mehr brutal wirken. (Braidt 2008, 136f.)

Ob diese Beschreibung ein kognitives Verständnis von Film impliziert, das die sinnliche Wahrnehmung als ‚analytische Beobachtung‘ deklariert, oder ob die Hervorhebung der ‚visuellen Ästhetisierung‘ und der Wahrnehmung des Taktes auf eine Dimension ästhetischer Erfahrung abhebt, bleibt unklar. Die Bedeutung sinnlicher Erfahrung wird nicht reflektiert, obgleich die Methode sich dezidiert von einem ‚textuellen‘ und abbildlichen Verständnis von Film unterscheiden soll. Braidts Ansatz ist widersprüchlich, wenngleich sie auf ein Problem aufmerksam macht, das ich auch sehe und bearbeite. Doch was bedeutet es, wenn die Skorpione eben nicht durch die narrative Einbettung zahm erscheinen, sondern durch den Takt der Musik und die ‚visuelle Ästhetisierung‘? Die affektdramaturgischen Elemente lassen sich augenscheinlich nicht vollkommen ausblenden. Obgleich Braidt sich ausdrücklich von phänomenologischen Ansätzen distanziert, beziehen sich die Analysen auf sinnliche Erfahrung. Genau dieses Auseinandertreten von konstatierter ästhetischer Erfahrung und ihrer Theoretisierung stellt den Ausgangs- und Kritikpunkt in der von Vivian Sobchack dargelegten neophänomenologischen Medientheorie dar (Sobchack 2000, 53ff.).

Gleichwohl Braidt kognitive Ansätze vorstellt, die auch der emotionalen Dimension gerecht zu werden suchen (u.a. Wulff 2002; Plantinga/Smith 1999; Grodal 1997; Wuss 1993), stehen für sie kognitive Wahrnehmungsprozesse im Vordergrund. Die ästhetische Erfahrung spielt eine untergeordnete Rolle in ihrem Forschungsdesign. Ihre Methode repräsentiert eine der phänomenologischen Forschungsrichtung (für die die körperliche Erfahrung wesentlich in der Bedeutungsproduktion ist und die nicht von einem zu entziffernden Text ausgeht) diametral entgegengesetzte Position.

Während die Filmrezeption für Sobchack ein Kommunikationsverhältnis darstellt, bei dem sich Zuschauerin und Film sowohl als Subjekt als auch Objekt gegenübertreten, setzen Braidts Ausführungen eine klare Trennung zwischen dem Film als Objekt und der Zuschauerin als – der Rezeption vorgängiges – Subjekt voraus. Film ist nach Sobchack (und auch nach Williams) ohne die Filmerfahrung, das leibliche Erleben durch die Zuschauerin nicht konzipierbar. Dagegen erschließt sich für Braidt die (‚komplette‘) Wahrnehmung erst durch die empirische Untersuchung des Publikums. Film fungiert für Braidt als narrativ fassbares Objekt, das eine gewisse Wirkung entfaltet, die jedoch unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Sie stellt die sich durch Film konstituierende Wahrnehmung ‚realer Wahrnehmung‘ gegenüber.

Obgleich ich es angesichts der eingangs von mir hervorgehobenen Kritik Gertrud Kochs an der Vordergründigkeit von Frauenbildern auf Kosten der Analyse der „subjektive[n] Bedeutung dieser Bilder für die Frauen“ (Koch 1989 [1980], 132) folgerichtig finde, die Zuschauerin als elementaren Faktor bei der Untersuchung audiovisueller Geschlechterdifferenzierungen zu berücksichtigen und die mit der Inszenierung verbundene Wahrnehmung in den Vordergrund zu rücken, mutet es widersprüchlich an, die Bedeutungskonstruktion allein an der Zuschauerin festzumachen – als wäre der „Rahmen des Filmwerks“ (Hansen 2012, 249), der durch eine Offenheit sich auszeichnende Text, letztendlich von wenig Relevanz. Befragungen von Zuschauerinnen zum entscheidenden Kriterium zu machen, um Aussagen über die Erfahrung von Film treffen zu können, hat vor allem zum Ziel, Frauen eine (‚eigene‘) Stimme verleihen zu wollen. Dabei wird oftmals der Eigensinn des Kinos vernachlässigt und Politik der Ästhetik gegenübergestellt.

Wenn Braidt das Augenmerk auf die qualitativen Interviews richtet, impliziert dies – entgegen ihrer formulierten Intention – ein Filmverständnis, das von einem audiovisuellen Text ausgeht, dessen Bedeutung allein die Zuschauerin bestimmt, die sich diesen im Sinne des ‚Gegen-den-Strich-Lesens‘ aneignen kann. Die solcherart definierte Wahrnehmung durch die Zuschauerin bestimmt sich nach Braidt wiederum durch den Diskurs um Gender und Genre – den sie, zumindest in letzter Konsequenz, außerhalb der Filme verortet. Zwar beschreibt ihre Kritik an vorherrschenden genretheoretischen Ansätzen zu Rolle und Funktion von Geschlecht im Genrekino das Desiderat aktueller Forschung, doch weist das von Braidt implizierte Zuschauerinnenmodell aufgrund von Widersprüchen und den theoretischen Voraussetzungen nicht über die von ihr kritisierten bestehenden Theorien hinaus. Zwar stimme ich Braidt zu, wenn sie schreibt:

Mit Inhaltsanalysen können nämlich zwar gut die stereotypen Charakterisierungen in Soaps nachgezeichnet werden, aber nicht die Schaulust, die die ZuschauerInnen trotz (oder wegen?) dieser Stereotypisierung erleben, erklären. (Ebd., 81f; vgl. dazu auch Gledhill 1997, 343)

Allerdings finde ich es problematisch, einen Zugang zur ‚gesamten‘ ästhetischen Dimension des Films und damit zur ‚tatsächlichen‘ Filmerfahrung eröffnen zu wollen, da dieses Ziel eine ‚objektive‘ Realität, eine nachweisliche ‚Wahrheit‘ – und nicht zuletzt eine objektiv fassbare Zuschauerin – voraussetzt. Denn, wie Charlotte Brunsdon schreibt:

[T]he notion of the ‚real audience‘ in empirical audience research, with its parameters defined by the researcher, is just as much a construct as the textual spectator (Brunsdon zit. nach Chaudhuri 2006, 42).[19]

Das durch Fragebögen adressierte Publikum ist ebenso konstruiert wie die in einem Text angelegte Zuschauerin. Diese in empirischen Erhebungen implizierte vermeintliche Objektivität bleibt bei Braidt weitestgehend unreflektiert. Es wird von einer Filmerfahrung ausgegangen, die unabhängig eines bestimmten Forschungsinteresses artikulier- und nachweisbar ist.

Braidts Zuschauerinnenmodell steht stellvertretend für grundsätzliche Fragen empirischer Methodik, die nicht selten in institutionellen, oftmals wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen ein für allemal geklärt werden sollen, als gelte es, die Vielfältigkeit von Perspektiven und Forschungsansätzen auf einen Nenner zu bringen und einen letztgültigen Zugang zur medialen Bedeutungskonstruktion zu finden. So birgt der Versuch, kommunikations- und filmwissenschaftliche Methoden zu vereinen, grundsätzliche Risiken, die mit interdisziplinär ausgerichteten Forschungsprojekten einhergehen.[20]

Braidts Ausführungen verdeutlichen diese methodische Problematik. Denn die filmwissenschaftliche, ‚textorientierte‘ Methode scheint mir in der Konzeption des Film-Genus unvereinbar mit einem kommunikationswissenschaftlichen Ansatz, der die Befragung der Zuschauerin zur Ausgangbasis macht. Im Grunde setzt Braidt mit ihrem Forschungsdesign voraus, dass die Aussagen von Zuschauerinnen einen höheren Erkenntnisgewinn hervorbringen als theoretisch fundierte Filmanalysen. Wenn es erklärtermaßen darum geht, theoriegeleitete Hypothesen empirisch zu überprüfen (Braidt 2008, 118), spricht sie theoriegeleiteten Fragen und kritischen Medienanalysen eine Aussagekraft jenseits empirischer Erhebungen ab. Filmstudien werden dadurch zu bloßen Spekulationen degradiert. Ohnehin drängt sich die Frage nach dem Verhältnis von Empirie und Film- und Medienwissenschaft auf, wenn es um die ‚empirische Überprüfung‘ von Theorie geht, insbesondere wenn es um die Bestimmung der Filmerfahrung geht.[21]

Einerseits hebt Braidts Methode auf die Aussagen der (bewusstseinsgesteuerten) Rezipientinnen ab, obgleich Zuschauerin wie Filminszenierung gleichermaßen untersucht werden sollen. Andererseits bilden exemplarische – und aufschlussreiche – Filmanalysen den Mittelpunkt ihrer Studie und die Interviews werden auf ein zukünftiges, noch durchzuführendes Projekt verschoben. So bleibt offen, wie das derart konzipierte und analysierte Material auf die Wahrnehmung des Publikums bezogen werden soll und welche Erfahrungsdimension letztendlich von Interesse ist.

In diesem Zusammenhang bildet Ute Bechdolfs kulturwissenschaftliche Studie Puzzling Gender zum Musikfernsehen (Bechdolf 1999) gewissermaßen das ausbleibende Gegenstück zu Braidts vorgestellter Methode. Um die vielschichtige Bedeutung von Geschlechtlichkeit zu fassen, befragt Bechdolf Zuschauerinnen und Zuschauer, wie sie Videoclips interpretieren. Wenngleich ihre Studie zur audiovisuellen Geschlechterdifferenzierung als soziale Verhandlungspraxis interessante Ergebnisse liefert, kommen die (von ihr proklamierten) ästhetischen Analysen zu kurz. Das erklärte Ziel, die ‚filmtextliche Positionierung‘ sowie die ‚tatsächliche Erfahrung‘ hinsichtlich des Geschlechts als dynamische Kategorie zu fassen, entpuppt sich wie bei Braidt als äußerst diffizil. Letztendlich wird die medienspezifische Filmerfahrung zu Gunsten der Publikumsäußerungen in den Hintergrund gedrängt.

Im Grunde gehen die meisten – nicht nur gendertheoretischen – Ansätze in der Filmwissenschaft entweder von einem (intentionalen, stabilen) Text oder einer aktiven Rezipientin (im Sinne von Aneignungsstrategien, d.h. agency) aus. Nur wenige Theoretikerinnen[22], wie Vivian Sobchack, Linda Williams oder Hermann Kappelhoff, gehen von Film als in der Rezeption sich realisierende Erfahrung aus. Zudem wird in der Regel das Filmerleben getrennt von einer sozialen Realität betrachtet. Es wird ein Verhältnis von Medien und Gesellschaft vorausgesetzt, das Medien in, aber nicht als (Teil der) Gesellschaft denkt. Dies impliziert ein Abbildverhältnis, durch welches die ästhetische Erfahrung – und damit die variable Bedeutung der Kategorie ‚Frau‘ – aus dem Blick gerät.

So geht es mir wie Braidt um die Funktion von Geschlechterdifferenzen für die Filmerfahrung und nicht um die Erforschung von Genrekonventionen oder Geschlechterstereotypen. Ebenso soll diese Arbeit aufzeigen, inwiefern Genre und Gender als Analysekategorien definiert werden können, die einerseits offen und dynamisch fungieren und andererseits Form und Struktur aufweisen. Meine Arbeit zielt jedoch nicht auf „ein flexibles, erwartungsorientiertes und sinnhaft-intentionales Umgehen (Verstehen) mit (von) medialen Angeboten (Filmen)“ (Braidt 2008, 40f., 118) ab, sondern auf die formalästhetisch fassbare, sich in der Filmerfahrung konstituierende Bedeutung von Geschlechtlichkeit.

Die Theorien von Williams und Braidt begreifen Genre als Funktion, um die Filmerfahrung aus geschlechtstheoretischer Perspektive beschreibbar zu machen. Das heißt, die Reflexion von Genre ist einem Zuschauerinnenmodell nachgeordnet. Das jeweilige Zuschauerinnenmodell impliziert immer schon eine bestimmte Realität, die geschlechtlich geprägt ist, sei es aus psychoanalytischer (Williams) oder aus soziologischer Sicht (Braidt). Wenn man sich allerdings von einem Zuschauerinnenmodell im engeren Sinne entfernt, eröffnet sich eine andere Perspektive auf Genre. Dann nämlich ist Genre kein funktionalistischer Begriff mehr, sondern bietet die Möglichkeit, den Zusammenhang von Film und geschlechtlicher Realität zu denken, ohne von einer psychoanalytisch, soziologisch, historisch oder leiblich vorbestimmten Realität auszugehen. An die Stelle einer vorbestimmten Realität setze ich mit der Frage nach der Erfahrungsmodalität den Begriff der ästhetischen Erfahrung. Damit zielt die Arbeit auf eine Erfahrungsdimension ab, die sich erst durch die Filmrezeption realisiert. Denn letztendlich bleibt die Frage nach dem Verhältnis von Genre und Gender sowie Film und Publikum bestehen, wenn man sowohl den Eigensinn kinematographischer Bilder als auch die Rolle der Zuschauerin berücksichtigen möchte.

1.4. Genre als Erfahrungsmodalität

In ihrem Aufsatz „Rethinking Genre“ (Gledhill 2000) entwickelt Christine Gledhill einen Ansatz, der vielerlei Anknüpfungspunkte bietet, um das Verhältnis von Genre, Gender und Gesellschaft als eng miteinander verknüpft zu denken. Im Mittelpunkt des Textes steht das Melodramatische, das sie als eine genrekonstituierende Modalität begreift, die für sie – wie für Williams (Williams 1991, 3f.) – grundlegend für das Hollywoodkino ist. Das Melodrama des 19. Jahrhunderts sei entscheidend für die Entwicklung des modernen Genresystems und seine sich verändernden Grenzen zwischen Hoch- und Massenkultur (vgl. auch Langford 2005; Williams 1998). Es besitze eine besondere Fähigkeit, auf Fragen der Moderne zu antworten, erklärt Gledhill (Gledhill 2000, 228, 234f.). Für sie stellt es eine Modalität dar, die sich medienübergreifend realisiert. Gledhill beschreibt das Melodrama als intermediale Form, da es im Vaudeville Theater, in der Music Hall, in Magazinen, als Popkultur und in der Massenkultur existiere. Mit Verweis auf Michail M. Bachtins Beschreibung des Romans als alle Kunstformen versammelnder Ort, konstatiert sie, dass allen Kunstformen das Melodrama innewohne (Gledhill ebd., 234f.). Um die historische Entwicklung von Genres zu untersuchen, sei entsprechend die Frage nach der Aktualisierung der Modalität des Melodramatischen zu stellen.

Anders als die vor allem in den 1960er Jahren aufkommenden semiotisch ausgerichteten filmwissenschaftlichen Ansätze, die Genres als stabile Schemata verstehen, verweist Gledhills Konzeption der Modalität auf deren Wandelbarkeit. Modalität fasst sie wie folgt:

Out of this institutional context, aesthetic, cultural, and ideological features coalesce into a modality which organises the disparate sensory phenomena, experiences, and contradictions of a newly emerging secular and atomising society in visceral, affective and morally explanatory terms. The notion of modality, like register in socio-linguistic, defines a specific mode of aesthetic articulation adaptable across a range of genres, across national cultures. (Gledhill 2000, 228)

Wie für mich stellt Genre auch für sie nicht ein Filmkorpus dar, dessen Funktion sich gemäß der jeweiligen Perspektive bestimmt (etwa der Produktionspresse, der Filmkritik oder des Publikums), sondern eine spezifische gesellschaftliche Wahrnehmungsweise, eine Modalität, die untrennbar mit den jeweiligen ästhetischen Ausdrucksformen einer bestimmten Zeit und Kultur verknüpft ist. Im Anschluss an Williams definiert Gledhill Genre in einem ähnlichen Sinne, als einen „culturally conditioned mode of perception and aesthetic articulation“ (Gledhill 2000, 227). Damit verweist sie sowohl auf die ästhetische als auch auf die soziale und kulturelle Rolle von Filmgenres in der und für die Gesellschaft. D.h. sie versteht das Melodramatische als Genre: als Ausdruck und zugleich Teil der Gesellschaft.

Gledhill begreift die melodramatische Modalität als eine popkulturelle Form subjektiven Empfindens, mittels derer gesellschaftliche Konflikte verhandelt werden. In den Worten von Matthias Grotkopp und Hermann Kappelhoff, die sich ebenfalls mit Gledhills Konzept der Modalität auseinandersetzen:

[W]hat makes the melodramatic modality so important historically and significant for the popular cultural system of genre cinema is that it relates its ‚version of reality‘ to a realm of experience that is generally accessible: the experience of embodied subjectivity. Melodrama takes the symbolic systems and moral problems that constitute a society and realises them as a temporally unfolding modulation of extreme states of emotional being. (Grotkopp/Kappelhoff 2012, 33).

Von Gledhills Ausführungen zu Modalität und Genre ausgehend, begreife ich den gegenwärtigen Woman’s Film als eine spezifische Erfahrungsmodalität, mittels derer soziale und kulturelle Geschlechterdifferenzen sinnlich erfahrbar und reflektierbar werden. Gledhill misst der Genreforschung eine große Produktivität bei, um die soziale und kulturelle Verfassung einer Gesellschaft zu analysieren. Ihrer Meinung nach lassen sich anhand der Grenzziehungen und -verschiebungen von Genres, ihrer Generierung und Transformation, die kulturellen und ästhetischen Bedingungen ihrer Entstehung verfolgen (Gledhill 2000, 222). Genres kennzeichneten gesellschaftliche Umbrüche und den Wandel überkommener Ideen. Sie forderten bestehende Vorstellungen heraus und eröffneten eine Perspektive auf alternative Welten. Genres begreift Gledhill als prozesshaft und historisch. Sie seien laufend Transformationen unterworfen und erneuerten sich stetig (ebd., 239). Dass Genres gewissermaßen eine gesellschaftliche Notwendigkeit darstellen, etwa zur „Aushandlung des aktuellen Selbstverständnisses“ (Hickethier 2003, 70ff.; Neale 2003 [1990]; Hayward 2000; Altman 1989; Tudor 1974) ist ein Gemeinplatz in der Genreforschung. Jedoch werden sie in der Regel als Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen verstanden und eben nicht als Teil einer konkreten historischen Situation.

Wie Sobchack betont Gledhill, dass der kulturelle Kontext weder den Ursprung eines Genres zu erklären vermöge, noch dass jenes ein Fenster zur Welt darstellte (vgl. Sobchack 1998) – wie größtenteils von genretheoretischen Ansätze impliziert (vgl. z.B. Langford 2005). Aufgrund seines Massencharakters wird Film oftmals als direkter Zugang zu sozialen Konflikten behandelt und die ästhetische Erfahrung ausgeblendet (vgl. dazu auch Gledhill 2000, 239). Entsprechend fordert Gledhill ein Genrekonzept, das die sozialen und kulturellen Bedingungen von Genres reflektiert, diese nicht aber als Ursprung von Genres setzt (ebd., 221). Wie aber ist dies als „culturally conditioned mode of perception and aesthetic articulation“ (ebd., 227) zu fassen? Was sind das für ästhetische Formen, durch welche sich ein kultureller Modus artikuliert? Wenn Genres gesellschaftliche Wahrnehmungsweisen darstellen, wie sind diese konkret fassbar? Wie ist das Verhältnis zwischen Genre, ‚Text‘ und Erfahrung?

Wie ich in der Diskussion um Braidts Konzept des Film-Genus und durch den Exkurs zum klassischen Woman’s Film versucht habe zu verdeutlichen, ist der einzelne Film(text) zwar von Bedeutung für die genretheoretische Bestimmung der Erfahrungsmodalität, doch kann er nicht den alleinigen Zugang bilden (im Sinne eines abgeschlossenen, zu entziffernden Textes, der als Fenster zur Welt fungiert), um die ästhetische Erfahrung von und durch Genres und deren soziale Funktion zu verstehen. Weder bestehen Genres ausschließlich aus Filmen, noch sind sie von diesen ablösbar und unabhängig zu identifizieren. Mit der Analyse des gegenwärtigen Woman’s Film begreife ich Filmanalyse als eine ästhetisch ausgerichtete Methode, die über eine ‚Textanalyse‘ hinausgeht und den spezifischen historischen Kontext miteinbezieht und somit die Möglichkeit birgt, Genre als „kulturelle Kategorie“ (Mittell 2001, 7f.) zu denken. Meines Erachtens gilt es eben nicht, sich von einer ‚Textanalyse‘ zu distanzieren, sondern in erster Linie, das Verständnis des ‚Filmtexts‘ um die ästhetische Erfahrung zu erweitern. Genre stellt für mich eine Vergleichsperspektive dar, um auf eine bestimmte Art und Weise Filme zusammenzudenken. In diesem Sinne stellt Genre in diesem Buch vor allem eine Analysekategorie dar und weniger einen Forschungsgegenstand im Sinne eines Filmkorpus. Folglich gilt es weniger zu klären, was beispielsweise den Western, den Horrorfilm oder den Woman’s Film definiert und welche Filme den jeweiligen Genres zugehören und welche nicht, sondern vielmehr stellt sich die Frage, wie sich Genres sowohl durch oder im Film ereignen. Dies stellt eine grundlegend andere Perspektive dar, als nach Schemata, Ordnungskriterien oder der Entstehung von Genres zu fragen. Genre selbst ist dann Diskurs und nicht „Diskurs-Produkt“, dann hat es keinen Ursprung, sondern ereignet sich. So gehe ich nicht davon aus, dass Genres (als Produkt) bestehende oder sich wandelnde gesellschaftliche Vorstellungen (d.h. Produktionszusammenhänge) widerspiegeln, sondern dass Genres eben diese sind. Gesellschaftliche Vorstellungen ereignen sich im Genre als ästhetische Erfahrung.

Genre als Erfahrungsmodalität zu definieren, setzt für mich also voraus, Filme weder getrennt von einer außerfilmischen Realität zu verstehen noch als entzifferbare Texte. Stattdessen stellen Filme bzw. Genres ästhetische Artikulations- und Wahrnehmungsformen gesellschaftlicher Vorstellungen und Verhältnisse dar. Aus diesem Grund stütze ich mich neben Christine Gledhills genretheoretischen Reflexionen auf Hermann Kappelhoffs Konzept des Zuschauergefühls (Kappelhoff 2004). Kappelhoffs Ausführungen zu Kino und Wahrnehmung stellen neben Sobchacks Medientheorie eine grundlegende Denkfigur dieser Arbeit dar. Wie für Sobchack lässt sich auch für Kappelhoff Film nicht ohne sein Publikum und die einzelne Zuschauerin denken, weshalb auch für ihn die ästhetische Erfahrung der Filme, die durch die Inszenierung sich realisierende Wahrnehmung, eine entscheidende Rolle in der Analyse des Melodramas spielt. Beide Theoretikerinnen gründen ihre phänomenologischen Ansätze in der raumzeitlichen Wahrnehmungsgestaltung des Kinos, um dessen medienspezifische Ästhetik herauszuarbeiten. Während Sobchack die leibliche Dimension der Filmerfahrung hervorhebt, hält es Kappelhoff vor allem für notwendig, Film als zeitlich strukturierte Wahrnehmung zu fassen. In seiner filmanalytischen Studie zum Melodrama steht die in der Dauer der Rezeption audiovisueller Bilder sich entfaltende sinnliche Erfahrung im Vordergrund. Er schreibt:

Denn letztendlich sind es keine Bilder, die dem Zuschauer präsentiert werden, sondern mediale Modulationen der Zeit seiner Wahrnehmung, seiner Denk- und Empfindungsprozesse. Der Zuschauer selbst, die Wahrnehmung im Kino, ist ein durch und durch künstliches Aggregat, das es analytisch zu fassen gilt, will man die Formen des Melodramatischen im Kino begreifen. Die Empfindungsbilder des Kinos sind eine Verdichtung der realen Zeit der ästhetischen Wahrnehmung zu einer Audio-Vision. (Ebd., 50)

Auch Kappelhoff geht nicht von einer sozialwissenschaftlich fassbaren Zuschauerin aus, sondern denkt die Kinozuschauerin als Wahrnehmungsformation, als „künstliches Aggregat, das es analytisch zu fassen gilt“. Denken und Empfinden fallen für ihn zusammen in der Rezeptionssituation des Kinos, die er ausdrücklich von einer alltäglichen unterscheidet – gleichwohl diese für ihn eng an die ästhetische geknüpft ist (ebd., 169ff.).

Hervorzuheben ist, dass auch er nicht von einer allmächtigen Wirkkraft des Films ausgeht, die das Publikum beliebig zu manipulieren vermag, oder von einer (kognitiven) Bewusstseinsdimension, derer es bedarf, um sich als Zuschauerin in irgendeiner Weise ‚aktiv‘ oder ‚passiv-aktiv‘ zu einem Film verhalten zu können. Kappelhoffs Überlegungen schließen an Sobchacks Kommunikationsmodell an. Er erklärt, dass es sich bei der Affizierung von Zuschauenden, vom Theater bis zum Kino, um eine eigenständige Aktivität seitens des Publikums handele, welche die Inszenierung, das Schauspiel und die Bühne, zum ästhetischen Gegenstand hat. Mit eigenständiger Aktivität ist allerdings in keiner Weise eine Eigenmächtigkeit im Sinne von agency angesprochen oder ein Kino im Kopf der Zuschauerin gemeint, das sich beliebig realisieren kann, sondern ein individueller Wahrnehmungsprozess, der sich sinnlich vollzieht. Seine Überlegungen zielen auf ein medientheoretisches Konzept des kinematographischen Bildes ab, das nicht ohne die Erfahrungsdimension zu beschreiben ist und damit immer schon auf eine Wirklichkeit verweist.

Kappelhoffs Konzeption des Zuschauergefühls verdeutlicht dies. Das Verhältnis zwischen Figur, Schauspielerin und Zuschauerin beschreibt er wie folgt:

Mitleid ist eine Affektivität, die aus der realen Aktivität des Zuschauers, dem Zuschauen eines Schauspiels rührt. […] Ein ‚lebendiges Empfinden‘, das genuin dem Publikum eignet und weder von der Figur noch vom Schauspieler geteilt werden kann: Man könnte es das Zuschauergefühl nennen. (Ebd., 50)

Das Zuschauergefühl spricht somit eine Dimension an, die weder mit einer narrativen oder diegetischen noch einer außerfilmischen Welt, die der Schauspielerin, in Deckung gebracht werden kann – und das dennoch eng an beide Wirklichkeiten geknüpft ist. Wie Sobchack betont auch Kappelhoff, dass es sich nicht um ein empathisches Als-ob-Erlebnis handelt, sondern vielmehr um ein Empfinden am eigenen Körper, um das Wahrnehmen eines Körpers, der nicht der unsrige ist. Für beide ist entscheidend, dass es sich dabei nicht um einen vorbewussten Prozess handelt, der auf eine kognitive Ebene zu überführen ist, sondern dass in der affektiven Bewegung selbst Sinn gebildet wird.

Wenn Kappelhoff betont, dass es in der Rezeption also nicht um ein Nachempfinden dessen geht, was die Schauspielerin erlebt, hebt er sich von Williams’ Zuschauerinnenmodell ab, das offen lässt, wie die Relationen zwischen dargestellten, inszenierten und von der Zuschauerin empfundenen Emotionen zu fassen sind. Zudem ist sein filmästhetischer Ansatz jenem sozialwissenschaftlichen Braidts diametral entgegengestellt, wenn er das sich realisierende Empfinden der Zuschauerin in der audiovisuellen Gestaltung analysiert. In der Auseinandersetzung mit dem Melodramatischen als einer spezifischen Gestaltung subjektiven Empfindens entwickelt Kappelhoff einen filmanalytischen Ansatz, der sowohl die medientheoretische und rezeptionsästhetische als auch die filmpoetologische Seite im Kino umfasst.[23] So verwundert es nicht, wenn sich Kappelhoff dezidiert davon abgrenzt, Film als ‚Text‘ zu verstehen. Vielmehr sieht er ihn als:

[…] ein Objekt im Übergang zwischen äußerlichem Bild und innerer Imago: eine Bewegung, die immer zugleich eine zeitliche Darstellungsform – ein Bewegungsbild – und die Zeit des Prozesses einer affektiven Lektüre ist. [… ] Der Film im Kino ist der Prozeß der Entfaltung eines kinematographischen Bilds, in dem sich kontinuierlich die Bilder einer äußeren Realität mit den Objekten der inneren Welt des Publikums im dunklen Raum verweben. (Kappelhoff 2004, 305)

Die Ausführungen zum Zuschauergefühl verdeutlichen, auf welche Weise mit der Analyse der ästhetischen Erfahrung Sinnbildungsprozesse untersucht werden können. Begreift man im Anschluss an Kappelhoffs Kinokonzeption Genre als Erfahrungsmodalität, so lässt sich über die kinematographische Inszenierung der Sinnhorizont und das Bedeutungspotential von Filmen als spezifischer Realitätsbezug bestimmen. Denn, wie Matthias Grotkopp und Kappelhoff im Anschluss an Gledhill zusammenfassen:

Modalities can be defined as specific aesthetically organised forms of experiencing and perceiving the world. They are not merely rules of organising narrative events, but rather systems of addressing, modelling, and differentiating experience. A modality is a ‚mode of conception and expression‘ that must be regarded as a ‚sense-making system‘ and the different modalities are ‚related but significantly different versions of reality‘. (Grotkopp/Kappelhoff 2012, 31)

Genre als Erfahrungsmodalität zu fassen, bedeutet demnach, filmische Ausdrucksformen als in steter Entwicklung begriffene, offene Strukturen zu verstehen. Demnach gilt es nicht, Genres im Sinne eines evolutionären Schemas von Entwicklung, Blüte und Niedergang zu untersuchen, sondern zu erforschen, wie Genres, d.h. spezifische Erfahrungsmodalitäten zum Ausdruck kommen. Warum Genres entstehen, wie sie sich verändern und wieder verschwinden, wird kaum umfassend untersucht (Neale 2003 [1990], 173ff.).

Zwar wird in der Forschungsliteratur immer wieder von der Prozesshaftigkeit von Genres gesprochen, entsprechende Konsequenzen werden daraus jedoch kaum gezogen. Meist wird von Genres als gegeben ausgegangen und tautologisch argumentiert, etwa wenn bestimmte Settings anhand von Filmen herausgearbeitet werden, die wiederum das (bereits zuvor definierte) Genre begründen sollen. Aber was sind die jeweiligen historischen, sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen für Genres? Was bedeutet die Entstehung dieser oder jener ästhetischer Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen und inwiefern stellen sie eine gesellschaftliche Notwendigkeit dar? Und eben nicht zuletzt: Was ist Genre?

Begreift man Genre also als Erfahrungsmodalität und den gegenwärtigen Woman’s Film als Genre, so lässt sich über die Analyse der ästhetischen Erfahrung Genre als spezifischer Realitätsbezug bestimmen (Grotkopp/Kappelhoff 2012, 38f.). Wenn Genres nicht als statisch begriffen werden, sondern als ein dynamischer Prozess, der sich je nach historischer gesellschaftlicher Verfassung vollzieht, dann lassen sich Genres im Grunde erst rückwirkend untersuchen und definieren. Und wenn Jörg Schweinitz erklärt, dass Filmgenres „keine logisch einwandfreie konstituierbare Klasse von Filmen“ seien und dass „ein Komplex von Filmen tatsächlich durch ein (vor dem Hintergrund praktischer kulturindustrieller und sozialpsychologischer Zusammenhänge zu sehendes) filmkulturell verankertes Genrebewußtsein zusammengehalten wird“ (Schweinitz 1994, 113), dann wird umso deutlicher, dass für eine Genreanalyse ein spezifischer Kontext als Bezugspunkt vorauszusetzen ist. Wenn Genres in ihrer Prozesshaftigkeit nur in ihrer Historizität zu begreifen sind und die Grenzziehungen und -verschiebungen von Genres, ihre Generierung und Transformation, also immer relativ und sozial wie kulturell spezifisch sind, dann können Genres nur empirisch, an einem konkreten Gegenstand – und nicht rein theoretisch – bestimmt werden (vgl. z.B. Wedel 2007, vgl. auch Altmann 2012 [1999], 1; Laplace 1987).

Dass Genres gerade an historischen Umbrüchen in der Gesellschaft entstehen und durch die Transformation von Ideen und Vorstellungen gekennzeichnet sind, zeigt auch das Phänomen des gegenwärtigen Woman’s Films, mit dem ein Wandel feministischer Theorien und Bedeutungen der Kategorie ‚Frau‘ verbunden ist. Diskussionen um die Wirkkraft von Feminismus und die Gültigkeit politischer Positionen prägen die Filme sowie deren Klassifizierung und Einordnung. Und es ist tatsächlich bemerkenswert, dass der gegenwärtige Woman’s Film sich parallel zum Aufkommen des sogenannten Postfeminismus formiert. Doch wie lässt sich dieses Phänomen jenseits von abbildlicher Repräsentationslogik, das eine Subjekt-Objekt-Dichotomie voraussetzt, fassen?

Es lässt sich also festhalten, dass Genres Diskurse sind, die sich durch und in Filmen ereignen. Dabei verstehe ich mit Butler Diskurse nicht als Zeichensysteme, die etwas bereits Vorhandenes bezeichnen, sondern als konstituierende Macht, die das, was sie benennt, zugleich hervorbringt (vgl. Bublitz 2002, 36). Sie stellen gesellschaftliche Transformationen dar, die sich in der und als ästhetische Erfahrung ausdrücken. Wenn man den Woman’s Film durch die Zuschauerin, d.h. die Kategorie ‚Frau‘, definiert und Genre als Erfahrungsmodalität begreift und den Woman’s Film als Genre, dann kann man schlussfolgern, dass Genres sich ereignende Geschlechterdifferenzen sind. Ich gehe also nicht davon aus, dass der Woman’s Film bestehende oder sich wandelnde Geschlechterdifferenzen widerspiegelt, sondern dass er diese konstituiert. Genres stellen Kategorisierungs- und Differenzierungssysteme dar und sind Teil gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse und Bedeutungskonstruktionen. Der gegenwärtige Woman’s Film generiert, aktiviert/aktualisiert, bestätigt und verhandelt die Kategorie ‚Frau‘ in der ästhetischen Erfahrung. Ich gehe davon aus, dass dies sich heterogen gestalten kann und gerade deswegen, in der Mehrdeutigkeit, als gemeinsamer Bezugspunkt fungieren kann. Abhängig vom historischen und sozialen Kontext werden diese oder jene Filme als Chick Flick bzw. Woman’s Film kategorisiert – unabhängig davon, ob die Produktionen, je nach politischer Position, als feministisch oder anti-feministisch, emanzipatorisch oder affirmativ gewertet werden, als Kunstwerk oder ‚pure Unterhaltung‘. Da Geschlechterdifferenzen sich ganz unterschiedlich ausdrücken und verschiedene Effekte hervorbringen, gilt es, die jeweiligen Artikulationsformen als eben jene theoretisch herausgearbeitete genrespezifische Erfahrungsmodalität konkret zu untersuchen. In diesem Sinne verstehe ich den gegenwärtigen Woman’s Film als eine offene Form, die sich nicht letztgültig bestimmen lässt, sondern vielmehr ein vielgestaltiges Konzept darstellt, das die Bedeutung der Kategorie Frau in unterschiedlichen Gesellschaftskonstellationen beschreibbar macht. Das Genre des Woman’s Film ermöglicht folglich eine besondere Wahrnehmungsweise, die einen spezifischen Weltbezug herstellt. Was dies im Einzelnen und konkret heißt und wie gesellschaftliche Zuschreibungen wie ‚weiblich‘, ‚emanzipatorisch‘ oder ‚feministisch‘ als historisch-kulturell spezifische Klassifizierungen zu verstehen sind, reflektieren die folgenden Filmanalysen.

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13. Eine Ausnahme stellt die Screwball Comedy dar, in der Frauen ununterbrochen reden (Greifenstein 2013). Obwohl Frauen in diesem Genre Hauptrollen spielen, werden die Filme nicht zum Woman’s Film gezählt. Grund dafür ist die ästhetische Erfahrung des Genres, die sich deutlich von jener des Melodramas unterscheidet, und die Forschungsperspektive.
14. Für Teresa de Lauretis stellt gender eine mehrdimensionale Kategorie dar, die ein Verhältnis eines Individuums zu einer Gruppe bezeichnet. Dabei könne es sich um ganz unterschiedliche Relationen wie Geschlecht, class, race und sexuality handeln. Geschlecht stelle also nur eine unter vielen Relationen dar und meine eben nicht, wie sonst üblich, allein Geschlechterdifferenz (de Lauretis 1987).
15. Einen entscheidenden Faktor für die Popularität von Dallas (USA 1978–1991, David Jacobs) sieht Ien Ang in der Qualität des Fernsehprogramms an sich, das sich durch einen Fluss auszeichne – und weniger in der Serie selbst.Sie erklärt: „[W]atching television is strongly influenced by the ‚flow‘ character of programming: a coming and going of programmes without their individuality leaving any especially deep impression, because there is no time. Before one programme has finished, another has begun.“ (Ang 1985, 22).
16. Zu meinem Verständnis des medienphänomenologischen Konzepts Sobchacks hat maßgeblich der Vortrag „Neophänomenologische Filmtheorie: Ausdruck, Wahrnehmung und Verkörperung bei Vivian Sobchack“ von Sarah Greifenstein und Christina Schmitt beigetragen (Greifenstein/Schmitt 2011; vgl. auch Greifenstein/Schmitt 2014).
17. Ausnahmen bilden Altman 1988, Neale 2000, Gledhill 2000, Vonderau 2006, Wedel 2007.
18. Weitere Arbeiten, die im Anschluss an Williams’ Konzeption der Body Genres vornehmlich die Affektebene analysieren, beziehen sich etwa auf den Horrorfilm (Vonderau 2006), den Kriegsfilm (Kappelhoff/Gaertner/Pogodda 2013; Wedel 2010) oder eben das Melodrama (Williams 1991).
19. Zur problematischen Auffassung, die Aussagen von Zuschauerinnen als objektiver zu halten als Filmanalysen vgl. Mayne 1997. Judith Mayne kritisiert, dass oftmals die Position der Theoretikerin und Fragestellerin unberücksichtigt bleibt.Sie schreibt in ihrer Kritik zur berühmten Studie von Janice Radway „Reading the Romance“ (Radway 1984): „[…], we are left with an ideal reader who seems more real because she is quoted and referred to, but who is every bit as problematic as the ideal reader constructed by abstract theories of an apparatus positioning passive vessels.“ (Mayne 1997, 162) Außerdem verweist Mayne hinsichtlich von Radway auf die problematische Position der Autorin des „middle-classe, academic feminism“ (ebd., 160ff.). Zur Konstitution des „feminist intellectual“ durch die theoretische Auseinandersetzung der 1970er und 1980er Jahre vgl. Brunsdon 2000. Für weitere Kritik an Radways ‚intransparenter‚ feministischer Autorität‘ vgl. auch Gill 2007, 19f. Zum begrenzten Interpretationsraum kulturwissenschaftlicher und ethnographischer Studien vgl. auch Bergstrom/Doane 1989, 11f.
20. Mieke Bal betont beispielsweise in ihrem Buch Travelling Concepts in the Humanities (Bal 2002), dass es nicht darum gehen kann, fachfremde Ansätze schlichtweg auf ein neues Forschungsobjekt ‚anzuwenden‘, sondern dass sich Methoden immer am Gegenstand ausrichten müssen (ebd., 7). Anstatt Methoden interdisziplinär zusammenzubringen, schlägt Bal vor, mit Konzepten zu arbeiten, um über Fachrichtungen hinaus kommunizieren zu können und den mit der jeweiligen Forschungsperspektive sich (trans)formierenden Objekten gerecht zu werden. Konzepte wie Narrativität stellen in ihren Augen ‚Minitheorien‘ dar, die einen flexiblen und ‚elastischen‘ Umgang mit neuen Forschungsfragen gewähren (ebd., 35).
21. Zur Empirie und Medienwissenschaft vgl. auch Ausgabe 5 der Zeitschrift für Medienwissenschaft (2011), insbesondere die Einleitung von Vinzenz Hediger und Markus Stauff (Hediger/Stauff 2011), sowie den Aufsatz von Isabell Otto zur ‚Verdatung von Medien‘, „Empirie als Korrektiv“ (Otto 2011).
22. Gleichwohl ich an dieser Stelle und insgesamt in der Arbeit die weibliche Personalform, „Theoretikerinnen“, verwende, bezeichnet dies keinen gesschlechtsspezifischen Subjektstatus. Die weibliche Personalform soll die üblicherweise verwendete maskuline Form ersetzen. Dadurch möchte ich im Sinne einer feministischen Sprachpraxis dem „chaotischen Verhältnis zwischen Theoretiker und männlichem Theoretiker, d.h. der unklaren Unterscheidung zwischen allgemeiner und geschlechtsspezifischer Bezeichnung entgegenwirken (vgl. Lindemann 1993). Entsprechend spreche ich auch von „Zuschauerin“, selbst wenn nicht unbedingt eine Frau als Zuschauende gemeint ist. D.h. das Wort „Zuschauerin“ bezeichnet dann keine Geschlechtsidentifikation. An Stellen, die eine Unterscheidung in „Zuschauerin“ und „Zuschauer“ erfordert, beispielsweise in der Diskussion des Ansatzes von Laura Mulvey, werde ich diese Begriffe verwenden. Wenn es zu betonen gilt, dass Zuschauer wie Zuschauerin gemeint sind, verwende ich den Begriff „Zuschauende“.
23. Zur Kritik des Auseinanderfallens dieser Dimensionen in verschiedenen filmwissenschaftlichen Ansätze vgl. Kappelhoff 2004, 285f.