2. „Yes, we can!“ – Der kinematographische Modus des „Undoing Gender“

2.1. Legally Blonde – „I object!“
2.1.1. Weiblichkeit = Bildlichkeit
2.1.2. Elle als kinematographische Figuration des Vorurteils
2.1.3. Der Leinwand-Typus
2.1.4. Die Affektdramaturgie fortwährender Ambivalenz
2.1.5. Die kinematographische Repräsentation des Feminismus
2.2. Erin Brockovich – „No, I’m not a lawyer.“
2.2.1. Unübersetzbare (Bild-)Logiken
2.2.2. Pretty Woman und der Leinwand-Typus
2.2.3. Plurale Perspektiven
2.2.4. Insistierende Irritationen
2.2.5. sex und gender
2.2.6. Der Klassenkampf
2.3. Miss Congeniality – „I really do want world peace!“
2.3.1. Der kinematographische Sprechakt
2.3.2. Weiblichkeit als Maskerade
2.3.3. Die Parodie des Originals
2.4. Die emanzipatorische Erfahrungsmodalität


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Obwohl die Vorwürfe, Chick Flicks schrieben patriarchale Geschlechterbilder fort, ebenso verständlich sind wie die Lobeshymnen, dass es in Filmen wie Legally Blonde (USA 2001) gerade um das Aufbrechen oppressiver Wertvorstellungen gehe, geht dieses Buch nicht der Frage nach, inwiefern der gegenwärtige Woman’s Film als ‚feministisch‘ oder ‚anti-feministisch‘ zu gelten hat. Vielmehr möchte ich die starke Polarisierung, die sich mit diesem Genre verknüpft, zum Gegenstand meiner Studie machen und untersuchen, worin der Grund für die kontroversen Auseinandersetzungen liegt. Meiner Meinung nach lassen sich die gegenläufigen Kritiken nicht allein mit einer ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Repräsentationspolitik von Geschlechterbildern erklären. Die Urteile hängen nicht nur davon ab, zu welcher feministischen ‚Welle‘ man sich zugehörig empfindet. Vielmehr nehme ich an, dass die konträren Kritiken vor allem durch eine spezifische Erfahrungsmodalität hervorgerufen werden, welche den Filmen inhärent ist. Das bedeutet, dass die Polarisierung als ästhetische Erfahrung bereits in der Inszenierung der Filme angelegt ist.

Durch den eingangs beschriebenen, als ‚typisch postfeministisch‘ klassifizierbaren kinematographischen Figurentypus werden Kategorisierungsprozesse hervorgerufen, die sowohl die Diegese prägen als auch das Zuschauergefühl. So geht es etwa in Legally Blonde darum, dass die Protagonistin (Reese Witherspoon) sowohl ihr innerdiegetisches Umfeld als auch die Zuschauerin von ihren Qualifikationen zur Staranwältin überzeugen muss. Erin Brockovich (Julia Roberts) muss in dem gleichnamigen Film (USA 2000) ebenfalls gegen Vorurteile seitens der Kolleginnen und ihres Chefs und auch des außerfilmischen Publikums ankämpfen. Und auch Gracie Hart (Sandra Bullock) unterliegt als Miss Congeniality (USA/Australien 2000) allerlei geschlechtsspezifischer Kategorisierungsbestrebungen – nicht nur durch das Filmpersonal.

Der gegenwärtige Woman’s Film evoziert permanent stereotype Vorstellungen von Weiblichkeit, die er zugleich affirmiert und hinterfragt, sei es mittels der Inszenierung der ‚dummen Blondine‘ in Legally Blonde, der Figur der ‚Pretty Woman‘ in Erin Brockovich oder der Rolle der ‚Schönheitskönigin‘ in Miss Congenialtiy. Dadurch ist man ständig angehalten, sich ablehnend und/oder wohlwollend gegenüber den Protagonistinnen und den Filmen zu positionieren. Diese Widersprüchlichkeit, die der (postfeministischen) Populärkultur eingeschrieben ist, werde ich über die Analyse der filmästhetischen Erfahrung herausarbeiten. Demnach gilt es weniger zu untersuchen, welche Geschlechterbilder die Filme zeigen, sondern, welche Formen von ‚Frau-Sein‘ sie erfahrbar machen. Wie lässt sich Geschlechtlichkeit als Erfahrung bzw. Filmerfahrung fassen?

Die Erfahrungsmodalität des gegenwärtigen Woman’s Film lässt sich nicht ohne die theoretischen Auseinandersetzungen um Geschlechterpolitik begreifen. Für die Analyse des gegenwärtigen Woman’s Film ist die audiovisuelle Inszenierung von Weiblichkeit ebenso entscheidend wie die sich um sie entfaltenden feministischen Diskurse, da diese erheblich die Ästhetik dieser Massenproduktionen bestimmen.[24] Zum einen gehe ich davon aus, dass feministisch geprägte Debatten um Identität und Repräsentation den gegenwärtigen Woman’s Film maßgeblich prägen und zum anderen davon, dass dieser die Theorien sogar weiterschreibt. Wenn darüber geklagt wird, dass die feministischen Diskurse der ‚gesellschaftlichen Realität‘ voraus seien, stellt sich angesichts der Filme die Frage, inwiefern deren Rezeption eine kulturelle und soziale Praxis darstellt, die – umgekehrt – die Theorie vorwegnimmt. Wie die Filmanalysen nahelegen, sind die Filme nämlich progressiver, als manche feministische Position. Was genau bedeutet es also, wenn feministische Theorien aktuelle Medienproduktionen maßgeblich bestimmen, wie in der Auseinandersetzung mit Postfeminismus und Populärkultur immer wieder – vor allem kritisch – hervorgehoben wird? Wie ist die durch den gegenwärtigen Woman’s Film sich realisierende Filmerfahrung in Bezug zur feministischen Theorie einzuordnen?

Um Publikumserfolge wie Legally Blonde, Erin Brockovich und Miss Congeniality in der Konzeption einer spezifischen Erfahrungsmodalität miteinander zu vergleichen und ihre je spezifische Ausprägung zu begreifen, werde ich die jeweiligen Figureninszenierungen mit feministischen Topoi und Paradigmen konfrontieren und auf die konträren Kritiken beziehen.

Bemerkenswert ist, dass sich mit den Filmen Kategorisierungsprozesse verbinden, die nicht nur die feministischen Debatten entscheidend prägen, sondern ebenso die Diegese der Filme und das Zuschauerinnengefühl. So lässt sich einerseits ein explizit wahrnehmendes und urteilendes innerdiegetisches Publikum beobachten und andererseits evozieren die Hauptfiguren auf der Seite der außerfilmischen Zuschauerin fortwährend Affekte extremer Zustimmung und Ablehnung, die durchaus als Wechselspiel erfahrbar werden. Dadurch vollzieht sich eine doppelte Bewegung des Bewertens, diegetisch und non-diegetisch. Der gegenwärtige Woman’s Film inszeniert ein kinematographisches Spannungsverhältnis zwischen Individuum und sozialem Gefüge sowie einer dritten Position seitens der Zuschauerin, der es zukommt, sich zu den diegetischen Kategorisierungsprozessen zu verhalten. Neben den Haltungen eines innerdiegetischen Publikums zu den Protagonistinnen, werden wir, als Rezipientinnen der Filme, mit unseren eigenen Einstellungen gegenüber den weiblichen Hauptfiguren konfrontiert. Genau darin liegt die für den gegenwärtigen Woman’s Film so typische Affektdramaturgie begründet.

Bereits einzelne Einstellungen und Montagesequenzen inszenieren derart polarisierende Geschlechterbilder, dass man sich einem pausenlosen Bewertungsprozess ausgesetzt findet („Das ist gut.“ „Das ist schlecht.“ bzw. „Das ist feministisch.“ „Das ist anti-feministisch.“). Zum einen werden gängige Vorstellungen von Geschlechtlichkeit wie zum Beispiel hysterisches Kreischen als ‚typisch weiblich‘ markiert; zum anderen dekonstruieren die Filme essentialistische Identitätskonzepte, etwa indem sie erfahrbar machen, wie eine Miss America-Anwärterin einer qualvollen Körperdisziplinierung unterzogen werden muss, um als Frau intelligibel, d.h. wiedererkennbar zu sein bzw. zu werden.[25] Dass die Filme so konträre Kritiken hervorrufen, liegt meines Erachtens genau daran, dass sie mindestens diese beiden Lesarten zulassen: die einer euphorischen Affirmation eines eindeutig identifizierbaren ‚Frau-Seins‘ und gleichzeitig die Lust an einer Dekonstruktion gängiger Geschlechterbilder. So machen die Filme eine Position erfahrbar, die man mit Blick auf feministische Auseinandersetzungen als ‚postfeministisch‘ bezeichnen könnte: nämlich eine temporär und variabel ausgerichtete geschlechtsspezifische Subjektposition, die sich mit Begrifflichkeiten wie empowerment (‚Ermächtigung‘) und choice (‚Wahlfreiheit‘) beschreiben lässt (vgl. z.B. Stuart 1990).
Die Filme beziehen sich auf vorherrschende, wiedererkennbare Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten und verwerfen diese zugleich wieder. Dadurch inszenieren sie ein polarisierendes Wechselspiel extremer Haltungen und verunmöglichen eine letztgültige Positionierung. Sie widersetzen sich einerseits einer essentialistischen Repräsentationslogik von Identität und Geschlecht und machen zugleich – und das ist der interessante Punkt – die Kategorie ‚Frau‘ als legitimen, sogar notwendigen Bezugspunkt erfahrbar.

Diese solcherart skizzierte Affektdramaturgie bezeichne ich als kinematographischen Modus des „Undoing Gender“. Unter dem ‚postfeministischen‘ Konzept des „Undoing Gender“ verstehe ich soziale, politische und kulturelle Prozesse, welche die Performativität von Geschlechterdifferenzen sichtbar machen und ihre Konstruiertheit zum Vorschein bringen. Ziel ist es dabei nicht, eine Geschlechtsneutralität herbeizuführen und auch nicht, die Kategorie ‚Geschlecht‘ abzuschaffen, sondern vielmehr geht es darum, eine Pluralität verschiedenster Identitätskonzepte zuzulassen und sich pejorativen Zuschreibungen zu widersetzen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche soziale und politische Relevanz die Kategorie ‚Geschlecht‘ überhaupt hat und/oder haben soll (vgl. Lorber 2004).
Um die Erfahrungsdimension der Filme in den Blick zu bekommen und das Verhältnis zwischen Film und Zuschauerin analytisch zu bestimmen, stützen sich die folgenden Studien neben dem Konzept des Zuschauergefühls insbesondere auf das Bildraum-Konzept, wie es Kappelhoff in seinem Aufsatz „Die Dauer der Empfindung. Von einer spezifischen Bewegungsdimension des Kinos“ entwickelt hat (Kappelhoff 2006). Während sich mit dem Konzept des Zuschauergefühls das unmittelbare Verhältnis von Film und Zuschauerin und die Zeitlichkeit der Filmrezeption konzeptualisieren lässt, kann ich mit dem ihm untergeordneten Bildraum-Konzept die Filme formalanalytisch fassen. Der Begriff des Zuschauergefühls zielt vor allem auf die zeitliche Affektdimension des audiovisuellen Bildes ab, wohingegen der Bildraum stärker auf dessen Räumlichkeit verweist, die nichtsdestoweniger mit der Dauer der Rezeption in der Filmerfahrung verbunden ist. Mit Bildraum ist hier die im vorangegangenen Kapitel angesprochene ästhetische Dimension des Films gemeint. Der Bildraum konstituiert sich für Kappelhoff durch erstens den Handlungsraum und zweitens die Ausdrucksfiguration. Der Handlungsraum bezeichnet die Dimension des kinematographischen Bildes, in der sich Bewegungen und Aktionen von Objekten und Personen vollziehen. Kappelhoff erklärt:

Menschen, die sich von einer Position im Raum in eine andere begeben, die in Eisenbahnen, Autos und Flugzeugen oder zu Pferde Landschaften und Städte durchqueren; gemeint ist weiter die Bewegung der Bäume im Wind, das tosende Meer, der Regen und das Schneegestöber. (Ebd., 205f.)

Der Handlungsraum bezeichnet allerdings kein abbildliches Verhältnis zwischen Film und Realität, sondern eine fiktive Welt „die sich ansieht wie (eigene Hervorhebung) unsere alltägliche Wahrnehmungswelt“ (ebd., 206). Neben dem Handlungsraum ist für Kappelhoff die räumliche Ausdrucksfiguration entscheidend, um das kinematographische Bild zu beschreiben. Diese Dimension bezeichnet die Art und Weise der filmischen Darstellung (Schnitt, Montage, Kadrage usw.). Beides zusammen, der Handlungsraum und die Ausdrucksfiguration, ermöglichen Kappelhoff den „Film als Ganzes“, als Bildraum zu begreifen und nicht als Reproduktion einer außerfilmischen Welt (ebd., 212f.).

In dieser sich durch den Bildraum konstituierenden Wirklichkeit realisiert sich das Zuschauerinnengefühl. Damit ist weder die empirische, rein subjektive Rezeption noch die kognitive Leistung der Zuschauerin angesprochen, sondern ein an die Phänomenologie angelehntes Konzept des audiovisuellen Bildes, das sich nicht auf der Leinwand, sondern als Erfahrung der Zuschauerin realisiert. Das heißt, Film wird als spezifische ästhetische Gestaltung eines Rezeptionsprozesses begriffen (Kappelhoff 2006, 213).

2.1. Legally Blonde – „I object!“

Legally Blonde (USA 2001) bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung des gegenwärtigen Woman’s Film. Dieser Film hat mein Interesse an Chick Flicks überhaupt erst geweckt und stellt seitdem einen fortwährenden Bezugspunkt meiner Überlegungen zu Weiblichkeit und Filmerfahrung dar. Aufgrund der extremen Herausstellung geschlechtlicher Attribute und seiner herausragenden Popularität eignet er sich besonders gut dafür, exemplarisch zu analysieren, wie sich der oben skizzierte Modus des „Undoing Gender“, die filmische Sichtbarmachung von konstruierter Geschlechtlichkeit, aktualisiert.

Legally Blonde erzählt die Geschichte von Elle Woods aus Kalifornien, die ihrem Freund Warner Huntington zu ‚blond‘ ist, da dieser glaubt, für seine politische Karriere eine ‚Jackie‘ und keine ‚Marilyn‘ zu benötigen.[26] Um seine Liebe zurückzugewinnen, beschließt Elle zu eben solch einer ‚Jackie‘ zu werden und bewirbt sich an der Harvard Law School, die Warner ebenfalls besuchen wird. Obwohl sie mit ihren zahlreichen Aktivitäten im Modebereich auf den ersten Blick nicht ins Profil der renommierten Uni passt, wird sie angenommen – anders als Warner, der nur durch einen Anruf seines Vaters den Sprung von der Warteliste schafft. Die erfolgreiche Bewerbung wird als Ergebnis einer durchaus zwiespältigen Entscheidung inszeniert, da nicht klar wird, ob Elle aufgrund ‚äußerer‘ oder ‚innerer‘ Werte angenommen wird. Indem der Film beide Deutungsmöglichkeiten zulässt, verwehrt er der Zuschauerin ein abschließendes Urteil. Diese Ambivalenz strukturiert den gesamten Film.

Nach zahlreichen Hindernissen bei der Eingewöhnung (da die Protagonistin auch ihren Kommilitoninnen und Professorinnen zu blond bzw. pink ist) sorgt sie auf zwiespältige Weise überraschend als Newcomer-Anwältin in einem Mordfall für Furore. Denn dank ihrer Kenntnisse der Schönheitspflege (mit Dauerwelle duscht man nicht) gelingt es ihr, die Täterin zu überführen. Warner hält dann doch um ihre Hand an, aber sie lässt ihn links liegen. Zu ihrem neuen Partner (nicht unbedingt Liebhaber) wählt sie einen Kollegen, der sich von Anfang an kaum durch ihren pinken Auftritt irritieren lässt und sich mehr und mehr auf ihre Seite schlägt.

Soweit zur Handlung. Was wie eine US-amerikanische Erfolgsgeschichte aus dem Bilderbuch klingt, macht sich als mehrdeutige Erzählung erfahrbar. Denn es handelt sich um eine Frau, die sich den Weg nach oben bahnt. Aus diesem Grund stellen sich Fragen, die unter gegenteiligen geschlechtlichen Vorzeichen gar nicht relevant erscheinen würden. Wenn sich eine männliche Hauptfigur mit – männlich konnotierter – Schusswaffe ihren Weg frei schießt, ist dies nicht weiter bemerkenswert. Bedient sich eine weibliche Hauptfigur ‚weiblicher‘ Fähigkeiten wie dem Wissen über Schönheitspflege und hat zudem damit Erfolg, sorgt das für Irritation und Gelächter im Publikum. Legally Blonde präsentiert Bilder, die üblicherweise nicht ins Repertoire von Aufstiegsgeschichten gehören. Moralische Prinzipien geraten in Zweifel, die sich in der Regel klar formuliert finden. Kurz: Legally Blonde verwirft ein wiedererkennbares Wertesystem von Verhaltensmustern und Verfahrensweisen als Maßstab und entfaltet einen Bildraum, der sich weder allein als Affirmation stereotyper Einstellungen noch einfach als Entwurf einer alternativen Ordnung interpretieren lässt. Genau darauf, in der Konstruktion von eindeutigen Bezugsbildern und der gleichzeitigen unabschließbaren Umwertung und Neusortierung vorhandener Vorstellungen, basiert die Affektdramaturgie des Films.

Anhand von vier Filmausschnitten werde ich herausarbeiten, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen Bestätigung und Dekonstruktion als Zuschauerinnengefühl realisiert. Es handelt sich um folgende Szenen: die Einführung der Hauptfigur Elle (0:00:09–0:03:56), die Kleiderauswahl in der Boutique (0:03:57–0:05:02) und den Auftritt Warners (0:05:03–0:06:00), die einen zusammenhängenden Abschnitt bilden, sowie das Bewerbungsvideo, mit dem sich Elle bei Harvard bewirbt (0:14:16–0:18:45).

2.1.1. Weiblichkeit = Bildlichkeit


Anfang von Legally Blonde (USA 2001, Robert Luketic) (0:00:09–0:03:56)

Die erste Sequenz entwirft ein Bild der Protagonistin: Blondes Haar und der Popsong Perfect Day füllen den Bildraum. Parallel zum Bürsten der glänzenden Pracht wird eine junge Frau mit langem blondem Haar gezeigt, wie sie erhobenen Hauptes, in kurzem Rock und knappem Oberteil, über den Campus radelt. Durch die Kamerabewegung und die Montage wird ein point of view inszeniert, der eine Ansammlung junger, grölender Männer mit nackten Oberkörpern einfängt.[27] Die junge Frau passiert die Toreinfahrt zu einem Wohnheim. Ein Brief mit glitzernd pinker Aufschrift „Elle“, der zuvor in ihrem Fahrradkorb lag, wird zur Unterschriftensammlung – ähnlich eines Staffellaufs – von einer Frau zur nächsten gegeben. Dabei durchschreiten wir verschiedene Handlungsräume stereotyper Körpertechniken von Frauen: Es geht durch den Fitnessraum, vorbei an Cheerleadern bei der Probe, eine Wendeltreppe hinauf durch die gemeinschaftliche Schönheitspflege im dampfenden Badezimmer bis zum Zimmer der Adressatin des Briefes, Elle. Dazwischen geschnitten sind fragmentierte Bilder weiterer Körperrituale und weiblicher Attribute, wie etwa das Rasieren eines Beines, das Lackieren von Fingernägeln, ein Stapel Cosmopolitan, ein Homecoming Queen-Banner, das Schlüpfen perfekt gepflegter Füße in Herzchenschuhe mit Plateauabsätzen. Überall stehen, hüpfen und laufen kichernde und quatschende Frauen. ‚Pink‘ und ‚Blond‘ soweit das Auge reicht und alle Sinne wahrnehmen.

Mit jeder Einstellung setzt sich in der Dauer der Wahrnehmung Stück für Stück das Bild der Hauptfigur zu einer kinematographischen Figuration der ‚Blondine par excellence‘ zusammen. Doch dieses Urteil hält dem Film nicht stand – „I object!“. Denn zwar präsentiert Legally Blonde den Zuschauenden das Bild einer ‚perfekten Frau‘, doch zugleich wird ihnen gezeigt, wie dieses bzw. diese in Kleinstarbeit hervorgebracht wurde. Die Anfangssequenz inszeniert das feministische Paradigma, dass ‚Frau-Sein‘ immer ein ‚Frau-Werden‘ impliziert. Gemeinhin wird, so ein Hauptargument feministischer Theorie, der Mann als gegeben verstanden und damit als Norm gesetzt. Dagegen muss sich die Frau beständig durch performative Akte erst herstellen, ihre Existenz wird nicht a priori vorausgesetzt. Legally Blonde stellt das ‚Frau-Sein‘ als aufwendiges Verfahren des ‚Frau-Werdens‘ aus und kennzeichnet die Identitätskategorie Frau als Prozess, dessen Effekt normalerweise als natürlich ausgewiesen wird. ‚Frau‘ wird als Vorstellung entmystifiziert – im Gegenteil zum Film Noir, der die Frau in der Rolle der Femme fatale als „figure of a certain discourse unease, a potential epistemological trauma“ inszeniert, wie Mary Ann Doane schreibt. „For her most striking characteristic, perhaps, is the fact that she never really is what she seems to be.“ (Doane 1991, 1) Anders als der Film Noir nimmt Legally Blonde der Erscheinung ‚Frau‘ jegliche Unheimlichkeit. Der Film führt dem Publikum die Kategorie ‚Frau‘ als klares Konstrukt vor Augen, das nichts weiter zu verbergen hat. Es gibt kein Dahinter oder Darunter. ‚Frau‘ birgt keinerlei Geheimnis.

Zudem entfaltet die erste Sequenz durch die Vielzahl an Frauen eine allgemeine Bedeutungsebene, ‚die Frau‘, die in einer besonderen, die Protagonistin, mündet. Bis zum Auftritt Reese Witherspoons (Elle) ist nicht klar, wer eigentlich die Hauptrolle in dem Film spielt. Erst begleiten wir die Radfahrerin, dann übernimmt eine andere Frau die Rolle der Botin und schreitet Unterschriften sammelnd durch das Wohnheim und schließlich schieben zwei Freundinnen den Brief unter der Tür hindurch, der Elle sodann durch ihren Hund Bruiser (engl. für Kraftprotz) übergeben wird. Anstatt gleich zu Beginn ein klares Bild der Protagonistin zu zeichnen, entwirft die erste Sequenz zunächst eine Variation von Blondinen, um dann in einer einzelnen Figur zu münden: Elle. Damit spielt der Film auf die Kategorisierung der ‚Frau‘ auf der Ebene des biologischen Geschlechts, sex, an, welches – gewissermaßen als ‚Container‘ – die verschiedenen sozialen Ausformungen von sex, also gender, als variablen ‚Inhalt‘ birgt (vgl. Delphy 1993).[28] Doch wird Elle ebenso wenig wie die anderen Figuren nicht als eine Variante von ‚Frau‘ dargestellt, sondern selbst als Konstrukt inszeniert. Sie fungiert in Legally Blonde nicht als Charakter, sondern als audiovisuelle Figuration des „Undoing Gender“-Modus.

Elle scheint in der ersten Sequenz gleichfalls eine Art Botin zu sein. Denn die Kamera verweilt nicht auf der Figur, sondern führt über in eine Geste: Zuletzt dreht Elle ihren Kopf und macht eine Kusshand. Die Kamera setzt ihren Blick fort und schwenkt auf eine Fotografie von Warner. Die Sequenz kulminiert in einer Photographie des Geliebten und vermeintlich Zukünftigen. Dadurch werden, so könnte man schließen, die zuvor vollzogenen Aktionen weiblicher Performanz als teleologische Handlungen für ein männliches Gegenüber aufgezeigt und die heterosexuelle Matrix als diskursive Grundstruktur des Films manifestiert. Damit stellt das Ende der Montagesequenz die Vorstellung dichotomer Geschlechterdifferenz als Effekt unzähliger, performativer Handlungen aus. Zugleich steht das ‚Frau-Sein‘ bzw. ‚Frau-Werden‘ jedoch im Zentrum der Sequenz und Warner erscheint nur am Rande und zudem als reproduzierbares Bild. Zudem ist es Elles – ‚weiblicher‘ – Blick, der ihren Freund als Objekt der to-be-looked-at-ness definiert. Legally Blonde etabliert eine binäre Geschlechterordnung und hinterfragt sie zugleich als essentielles Bezugssystem. Der Film spielt mit Differenzierungsprozessen. Weder verabschiedet er sich von einer Geschlechterordnung, noch bestätigt er sie gänzlich. Im Grunde macht er beides auf einmal.

Der Film moduliert damit eine Erfahrungsmodalität, die mindestens zweierlei Affektdimensionen als Zuschauerinnengefühl hervorruft: Zum einen entfaltet sich mit dem Anfang das gemeinschaftliche, ‚weibliche‘ Empfinden von Vorfreude auf den erwarteten Heiratsantrag und zum anderen inszeniert die überbordende, dekonstruierende Darstellung eine Distanz, die sich in einer Perspektive auf eine (andere) Perspektive realisiert und eher ein Gefühl der Belustigung hervorruft. Beiderlei Gefühlsmodulationen erscheinen gleichzeitig, durchdringen sich gegenseitig und oder lösen einander ab – eine eindeutige Zuschauerinnenposition lässt sich nicht fassen. Die ästhetische Erfahrung realisiert sich in dieser mehrdeutigen Ambivalenz.

Gleichwohl die Montagesequenz in einer Figur mündet, geht es eben nicht um die Einführung eines psychologisch identifizierbaren Charakters mit „individualisierten psychischen Eigenschaften“, um „die Entwicklungen und Verhaltensweisen einer fiktionalen Konstruktion als Analogon zur ganzheitlichen Person […].“ (Taylor/Tröhler 1999, 141). Entsprechend ist das Verhältnis zwischen Zuschauerin und Film auch nicht als Identifikationsprozess zu bestimmen, im Zuge dessen man sich an die Stelle der Protagonistin imaginiert, sondern als Erfahrung von ‚Weiblichkeit‘, die sich als widersprüchlich und dennoch eindeutig darstellt. Eben diese Art von Figurenkonzeption ist typisch für den gegenwärtigen Woman’s Film und auch für seine affektive Struktur. Die Figuren dieses Genres re/präsentieren keine Charaktere, sondern eine spezifische Erfahrungsmodalität (vgl. auch Grotkopp/Kappelhoff 2012, 30).

Nicht nur die ersten Bilder von Legally Blonde haben eine affizierende Wirkung, die sich als ‚weiblich‘ bestimmen ließe. Das knallende Pink, das glänzende Blond, das Kreischen der versammelten Frauen durchdringen den gesamten Film. Geschlechtsspezifische Attribute wie hysterisch oder modebewusst werden durch den Film als sicht- und hörbare, als wahrnehmbare Eigenschaften thematisiert. Die räumliche Ausdrucksfiguration entfaltet eine materielle Omnipräsenz an ‚Weiblichkeit‘, die sich kaum auf eine individuelle Figur zurückführen lässt.

Im Sinne Rancières ließe sich eher von einem politischen Akt der Sichtbarmachung sprechen. Ästhetik und Politik gelten für Rancière als unmittelbar miteinander verschränkt. Wer und was sich als Subjekt in der Öffentlichkeit artikulieren, das heißt hörbar und sichtbar machen kann, begreift er als spezifische Ordnung gesellschaftlicher Wahrnehmung, die über die Teilhabe bzw. Nicht-Teilhabe an einem Gemeinsamen entscheidet bzw. dieses überhaupt erst konstituiert.[29] Allerdings kommt es nicht nur darauf an, dass sich jemand oder etwas artikuliert, sondern vor allem ist es bedeutend, wer oder was gehört und gesehen bzw. verstanden wird. Ob etwas Lärm ist oder Rede, das ist der entscheidende Unterschied, der zugleich Ausdruck der politischen Sphäre darstellt (vgl. Rancière 2006).

Es ist also entscheidend, auf welche Weise Weiblichkeit inszeniert wird und welche Funktion die Kategorie ‚Frau‘ im gegenwärtigen Woman’s Film zukommt. Die weiblichen Hauptfiguren in Chick Flicks unterscheiden sich fundamental vom klassischen Hollywoodkino. Pinkheit und Blondheit werden als exzessive Ausdrucksformen erfahrbar, die es weder zu neutralisieren, geschweige denn zu heilen gilt. Genau darin gründet die emanzipatorische Erfahrungsmodalität des Films: in der euphorischen Affirmation des ‚Frau-Seins‘ und der gleichzeitigen Dekonstruktion desselben.

Gertrud Koch weist daraufhin, wie „mühevoll“ audiovisuelle Bilder sprachlich zu übersetzen sind und dass sie sich nicht einfach auf eine abstrakte Bedeutungsebene überführen lassen. Das Kino könne

durchaus Mythen, Stereotypen und Klischees erzeugen, Imagines im psychoanalytischen Sinn, doch diese sind in keiner Weise vergleichbar mit begrifflichen Abstraktionen, sondern selber nur wieder Abbilder innerer Bilder, vorsprachliche Zeichen aus einer sprachlosen Welt, die erst in einem mühevollen Prozeß der Deutung und Interpretation sprachlich zugänglich werden. Die Wirkung freilich, die von diesen Bildern ausgehen kann, ist zunächst unabhängig davon, ob ich zu dieser sprachlichen Übersetzung in der Lage bin, Filme kann ich sprachlos rezipieren. (Koch 1989 [1980], 131)

In diesem Sinne verweist die von mir beschriebene affizierende Wirkung auf eine empirische Dimension von Weiblichkeit, die sich auf der Ebene der Erfahrung, das heißt als Zuschauerinnengefühl realisiert. So sind auch die sich mit dem gegenwärtigen Woman’s Film verbindenden polarisierenden Einstellungen den Filmbildern inhärent.

Wenn Legally Blonde zum einen eine Exzessivität prägt, die als weiblich qualifizierbar ist und auf der Ebene des Handlungsraums zum anderen sichtbar wird, wie Weiblichkeit durch aufwendige Körperarbeit hergestellt werden muss und die Hauptfigur sich zudem erst durch die Montage Stück für Stück zusammensetzt, bringt der Film eine Protagonistin hervor, die nicht anders denn als Bild zu denken ist. Das audiovisuelle Bild realisiert sich durch die Figur. Und wenn sich diese Bildlichkeit so stark durch Attribute und Ausdrucksqualitäten auszeichnet, die man als weiblich bezeichnen könnte, so modelliert die erste Sequenz in der ästhetischen Erfahrung geradezu lehrbuchhaft einen Topos feministischer Theorie, als würde der Film in großen Lettern schreiben: „Weiblichkeit = Bildlichkeit“.

Dieses kinematographische Verfahren ist als konkrete Anschauung feministischer Paradigmen zu qualifizieren – und nicht als schlichtweg ironisch, wie dies häufig in Verbindung mit postfeministischer Populärkultur, etwa von Angela McRobbie getan wird. McRobbie steht der ironischen Aufnahme feministischer Positionen durch die Populärkultur kritisch gegenüber, da mögliche Einwände gegen sexistische Darstellungen dadurch vorweggenommen würden (McRobbie 2010, 39). Diese Seite von Ironisierung ist anhand von McRobbies Beispielen – wie etwa der Beschreibung eines Werbeplakats für Wonderbra, auf dem das Supermodel Eva Herzigova sich selbst in den Ausschnitt guckt – gut nachvollziehbar. Doch gilt es zum einen, das jeweilige Produkt bzw. Werk im Detail zu analysieren und zum anderen kann, wie in Legally Blonde, die ironische Dimension mehrdeutige Funktionsweisen bergen, die sich nicht unbedingt auf eine (‚feministische‘ oder ‚anti-feministische‘) Position festlegen lassen. Zwar bildet diese Uneindeutigkeit zugleich die Basis für McRobbies Kritik, doch plädiere ich dafür, nichtsdestotrotz die Ambivalenz wahrzunehmen. Und nicht zuletzt ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Wonderbra-Plakat und Legally Blonde die Zeitlichkeit. Denn erst in der Dauer der Rezeption entfaltet der Film eine Affektdramaturgie, welche die Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit als emanzipatorisch erfahrbar macht.
Wenn man Ironie als Gegenteil dessen versteht, was man sagt, dann zeichnet den gegenwärtigen Woman’s Film aus, dass dieser genau umgekehrt, durch direkte Ausführungen bestimmt ist. In eben dieser Klarheit liegen das Irrwitzige des Genres und seine Schlagkraft. Indem die Filme uns vor Augen führen, wie real und allgemeingültig letztendlich jene Absurditäten geschlechtlicher Konstruktionen sind, stellt sich eine Distanzierung zum Geschehen ein, die – aus feministischer Sicht – nicht mit Ironie zu verwechseln ist.

Zum einen realisiert sich ‚Weiblichkeit‘ als Zuschauerinnengefühl, das sich nicht über einen als männlich vorausgesetzten Blick bestimmt; zum anderen wird die Theorie selbst erfahrbar, nämlich dass ‚die Frau‘, wie Teresa de Lauretis schreibt, immer nur als Repräsentation repräsentierbar ist (vgl. de Lauretis, 1987, 20). Einerseits setzt Legally Blonde Weiblichkeit als identifikatorischen Bezugspunkt, andererseits definiert der Film die Kategorie ‚Frau‘ als Produktion zirkulierender Bilder (und eben nicht durch sex, d.h. durch Reproduktion).

2.1.2. Elle als kinematographische Figuration des Vorurteils


Legally Blonde (USA 2001, Robert Luketic), Elle (Reese Witherspoon) mit ihren Freundinnen in der Boutique (0:03:57–0:05:02)

In der auf die erste Sequenz folgenden Szene wird die zuvor entwickelte Perspektive auf die Hauptfigur fortgeführt, allerdings wechselt die ästhetische Dimension der Bilder. Während der Anfang auf die Inszenierung einer Ausdrucksfiguration abzielt, welche die Gleichung Weiblichkeit = Bildlichkeit aufstellt, präsentiert der Film nun einen klar umrissenen Handlungsraum, der den Blick auf die Hauptfigur in den Vordergrund rückt. Die Szene spielt in einer Boutique, in der Elle ein Kleid für den Heiratsantrag sucht, den ihr Warner am Abend machen soll.

Gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen, die zuvor den Brief unter der Tür hindurchgeschoben haben, bespricht Elle, welche Farbe wohl geeignet für diesen Anlass sei. Während alle drei überlegen, ob Rot als Farbe der Konfidenz oder Pink als Markensymbol am besten passten, beobachten in der folgenden Einstellung die Ladenbesitzerin und ihre Mitarbeiterin die Diskussion aus der Distanz. In dem Moment entschließt sich die Besitzerin, der aufgeregten Kundin ein Kleid aus der vergangenen Saison als neu zu verkaufen. Durch diese aufeinander folgenden Einstellungen wird ein point of view etabliert, der unserer Perspektive als Zuschauerin entspricht. In einem kurzen Wechsel zeigt der Film die drei Freundinnen, dann die beiden anderen Frauen, die bereits zuvor im Hintergrund eines Spiegels zu sehen waren. Der Betrugsversuch scheitert allerdings, da Elle bestens über Mode und Textilien informiert ist und ihrerseits die Verkäuferin – und uns als Zuschauerinnen – mit ihrem Wissen hinters Licht führt. Zunächst begutachtet sie das angebotene Kleid begeistert, um kurz darauf die Anpreisung der Verkäuferin als Lüge zu enttarnen, da dieses Stück bereits im vergangenen Jahr in der Vogue präsentiert worden sei. Auf diese Weise führt der Film die ambivalente Lesart fort. Denn einerseits entzieht sich die Protagonistin eben dem Klischee der „dumb blonde with Daddy’s plastic“, wie die Besitzerin sie hinter vorgehaltener Hand bezeichnet, da sie sich nicht für dumm verkaufen lässt. Andererseits entspricht Elle diesem Klischee, indem sie sich als genau solch eine stereotype Vogue-Leserin ‚outet‘, die sie augenscheinlich ist. D.h. sie ist zwar die leidenschaftliche Vogue-Leserin, zu der der Film sie stilisiert, doch zugleich eben nicht genau jene, welche sich für die Zuschauerin mit dem Bild von Elle verbindet. Sie ist nicht einfach zu kategorisieren.

Diese ambivalente Lesart lässt sich als reflexives Moment des Vorurteilens definieren. In der ersten Einstellung sehen auch wir Elle allein als heiratswütige, perfekt gestylte Frau. Durch die folgende Einstellung und den damit etablierten point of view realisiert sich nicht nur ein kinematographischer Einstellungswechsel, sondern auch ein Perspektivwechsel auf Seiten der Zuschauerin. Während wir zunächst selbst als Beobachterinnen fungieren, nehmen wir nun eine dritte Position ein, nämlich die der Beobachterin des Beobachtens – der unübersehbare Spiegel unterstreicht diese Ebene. Noch teilen wir die Perspektive bzw. die Einstellung der Verkäuferin, obgleich das diabolische Schauspiel ein Unbehagen evoziert. Und in dem Moment, da Elle mit ihrem Expertinnenwissen auftrumpft, nachdem sie kurz die einfältig Blondine gibt und sich auf das Angebot angeblich einlässt, stellt sich das zuvor gefällte Urteil als Vor-Urteil dar. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Hauptfigur als kinematographische Figuration des Vorurteilens fungiert. Fortwährend evozieren stereotype Bilder Vorurteile, um sie kurz darauf als eben solche zu enttarnen, indem die hervorgerufenen Erwartungen enttäuscht werden. Damit werden Kategorisierungen als prozesshaft und temporär, als unabschließbar ausgestellt.

Wenn Elle Klischees sozusagen übererfüllt, werden Normen nicht reproduziert, sondern umgedeutet und verschoben. Der Film stellt gängige Kategorisierungen infrage. Er zielt nicht unbedingt darauf ab, diese abzuschaffen, sondern vielmehr darauf, diese in ihrer Konstruiertheit aufzuzeigen. Dies verdeutlicht, so ließe sich die Szene interpretieren, dass sich eine alternative Ordnung nicht fern bestehender Wertesysteme herstellen lässt, sondern dass es vielmehr um das emanzipatorische Moment in der von Judith Butler proklamierten potentiellen Umdeutung und Verschiebung von geschlechtlich bestimmten Identitäten geht. Auf diese Art von Variabilität vorherrschender Wertstrukturen gehen die folgenden Analysen weiter ein.

2.1.3. Der Leinwand-Typus

Neben dem Bildraum-Konzept stütze ich mich auf ein weiteres Konzept, um den gegenwärtigen Woman’s Film zu analysieren: auf Stanley Cavells Definition des Leinwand-Typus (Cavell 1979). Während mir der Bildraum erlaubt, die raumzeitliche Erfahrungsdimension der Filme zu bestimmen, scheint mir der Leinwand-Typus sehr gut geeignet, die Hauptfiguren des Genres zu analysieren. Durch Cavells Konzept lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen, stereotypen Bildern und besonderen, individuellen Merkmalen fassen, aus dem die Protagonistin aus Legally Blonde hervorgeht.

Mit dem Leinwand-Typus sucht Cavell in seinem Buch The World Viewed (Cavell 1979) das Spezifische der Filmfigur etwa im Unterschied zum Theater zu fassen. Während wir im Theater die Welt der Schauspielerinnen teilen, seien diese für uns im Kino zeitlich und mechanisch abwesend (ebd., 25). Aus diesem Grund stünde im Theater die Rolle des jeweiligen Stücks im Vordergrund, während wir im Kino vor allem die Schauspielerinnen wahrnähmen. Cavell verweist auf Panofsky:

Othello or Nora are definite, substantial figures created by the playwright. They can be played well or badly, and they can be ‚interpreted‘ in one way or another; but they most definitely exist no matter who plays them or even whether they are played at all. The character in a film, however, lives and dies with the actor […].
(Panofsky zit. nach Cavell, ebd., 27)

Im Kino fallen für Cavell Rolle und Darstellerin zusammen. Aus diesem Grund präge die Schauspielerin stets Ausdruck und Wahrnehmung der Filmfigur. Sie verkörpere die soziale Rolle auf individuelle Weise. Das Stereotype trete dadurch in den Hintergrund. So kennzeichne den Typus nicht die Ähnlichkeit mit Anderen, sondern das Getrenntsein: „For what makes someone a type is not his similarity with other members of that type but his striking separateness from other people.“(ebd., 33) Solcherart entstehende kinematographische Individuen bezeichnet Cavell als Individualitäten (im Gegensatz zu Stereotypen, die allein durch ihre Rolle gekennzeichnet sind, wie zum Beispiel die Mami, der Gefolgsmann oder der Entertainer, lange Zeit meist gemimt von Schwarzen[30]). Cavell erklärt: „What it means is that this is the movies’ way of creating individuals: they create individualities.“ (Ebd.)

Als Beispiel für den Leinwand-Typus nennt er die Schauspielerin Butterfly McQueen, die in Gone With the Wind wider Erwarten nicht dem Stereotyp der Schwarzen Geburtshelferin entspricht, sondern das Geschehen nur beobachtet. Cavell schreibt:

When in Gone With the Wind Vivien Leigh, having counted on Butterfly McQueen’s professed knowledge of midwifery, and finding her as ignorant as herself, slaps her in rage and terror, the moment can stun as with a question: What was the white girl assuming about blackness when she believed the casual claim of a black girl, younger and duller and more ignorant than herself, to know all about the mysteries of childbirth? (Ebd., 34)

Genau darin, in einer solcherart sich realisierenden Filmfigur wie etwa der Butterfly McQueen, entfaltet sich für Cavell die bedeutungsstiftende Möglichkeit des Kinos und damit ein neues Medium. Er führt aus:

Only the art itself can discover its possibilities, and the discovery of a new possibility is the discovery of a new medium. A medium is something through which or by means of which something specific gets done or said in particular ways. (Ebd., 32)

Indem uns diese Leinwand-Typen immer wieder begegnen und somit eine eigene Welt hervorbringen, erschafften sie, so Cavell, Filmzyklen, d.h. Genres. Damit brächten sie neue Bedeutungen hervor. In diesem Sinne stelle Genre ein Medium dar (ebd., 36). Anders gesagt: Indem der Leinwand-Typus eine besondere Ausdrucksform darstelle, definiere er das Kino als Medium und damit als Möglichkeit der Bedeutungsstiftung.

Cavells Konzept des Leinwand-Typus eröffnet eine interessante genreanalytische Perspektive auf den Figurentypus des gegenwärtigen Woman’s Film, da dieser sich in eben jenem Spannungsfeld zwischen sozialer Rolle und Individuum entfaltet. Obgleich Cavell seine Gedanken zur Filmfigur mit Blick auf das Hollywoodkino der 1930er und 1940er Jahre und insbesondere bezüglich des Schauspiels entwickelt, scheint mir das Konzept als ein produktiver Zugang, um die mit der Figureninszenierung verbundene genrespezifische Affektpoetik des gegenwärtigen Woman’s Film zu beschreiben.

Auch die Hauptfiguren des gegenwärtigen Woman’s Film realisieren sich in einem Spannungsfeld zwischen stereotypen Bildern und individualisierten Merkmalen. Einerseits argumentiert und agiert die Protagonistin aus Legally Blonde innerhalb einer als weiblich ausgewiesenen Logik, etwa wenn der Film Kenntnisse der Modebranche als Expertinnenwissen ausweist und ‚Pinkheit‘ zu ihrem Lebensmotto erklärt; andererseits entzieht sie sich permanent der Kategorisierung der Zuschauerin als ‚dumme Blondine‘. Führt man die ersten beiden Szenen des Films zusammen, so lässt sich eine affizierende Dramaturgie identifizieren, die seitens der Zuschauerin zu einem Einstellungswechsel führt. Von dem stereotypen Bild der Blondine verlagert der Film den Blick auf eine Figur mit individualisierten, nicht einordbaren Zügen. Die Protagonistin erscheint gewissermaßen als verkörpertes Vorurteil. Dieser Perspektivwechsel bringt einen Figurentypus hervor, der sich mit Cavells Leinwand-Typus gut auf die Affektdramaturgie und ambivalente Erfahrung des Films beziehen lässt.

2.1.4. Die Affektdramaturgie fortwährender Ambivalenz


Legally Blonde (USA 2001, Robert Luketic), der Auftritt von Elles Freund Warner (0:05:03–0:06:00)

In der dritten Szene von Legally Blonde, die zusammen mit der vorherigen die zweite Sequenz formiert, wird Elles Ex-Freund in spe, Warner, wortwörtlich Einlass in das Geschehen gewährt. Noch während das freudige Kreischen der drei Freundinnen aus der Boutique nachklingt, ertönen die Posaunen der nächsten Einstellung. In Nahaufnahme wird eine Hand mit Siegelring gezeigt, wie sie mit dem schweren Eisenring an die Eichentür des Wohnheims klopft. Dazu erklingt triumphale Musik.

Eine Studentin öffnet die Pforten. Warner erscheint in Anzug und Sonnenbrille, lässig an die Tür gelehnt. Im Hintergrund parkt sein Sportwagen. Die Streicher hüpfen ironisch: Nichts ist wie es scheint. Der ironische Unterton nimmt vorweg, was sich in der darauffolgenden Szene abspielt, nämlich dass Warner nicht um Elles Hand anhalten will, sondern im Gegenteil die Beziehung beenden wird. Die Kamera verfolgt Warners Blick und präsentiert Elle, wie sie in pinkem Kleid die Treppe hinuntersteigt. Dann kreist sie langsam um das Paar, das sich abschließend vor den Kommilitoninnen küsst, die in Reih und Glied die Szene verfolgen. Die zuvor, zum Ende der ersten Sequenz geworfene Kusshand realisiert sich nun für ein innerdiegetisches Publikum. Allerdings bleibt die ironische Distanz bestehen. Denn ausgestellte Gestik wie auf dem Herzen zusammengefaltete Hände, überbordende Mimik des Mitfühlens und kollektives Freudengeschrei verweisen auf eben jenes pathetische Gefühl, das sich mit solchen Filmmomenten in der Regel verbindet und reflektieren zugleich die Inszeniertheit solcher Bilder.

Permanent ruft die Inszenierung stereotype Bilder auf, von denen man sich zugleich distanzieren kann. Einerseits unterstreicht die affektdramaturgische Gestaltung von Legally Blonde, dass es sich um konstruierte Bilder von Weiblichkeit handelt, die in unseren Köpfen vorherrschen, und nicht um eine schlichtweg gegebene Kategorie, und erfüllt damit feministische Forderungen der 1970er und 1980er Jahre nach Dekonstruktion von Klischees. Andererseits bestätigt und unterstreicht der Film die so heftig kritisierten Geschlechtsdefinitionen, indem er Weiblichkeit nichtsdestotrotz als legitime Kategorie stehen lässt. Somit schreibt Legally BlondeNormen fort und legt zugleich ein subversives Moment frei.

Anhand einer vierten, für das Verständnis des Films zentralen Sequenz, die das Bewerbungsvideo von Elle zum Gegenstand hat, lässt sich zeigen, inwiefern sich Legally Blonde konkret auf feministische Paradigmen bezieht. Anhand dieses Beispiels kann das Verhältnis von Popkultur und Feminismus besonders gut filmanalytisch umrissen werden, das in aktuellen Auseinandersetzungen der feministischen Theorie und der Gender Studies über den „Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes“ (McRobbie 2010) eine entscheidende Rolle spielt.


Legally Blonde (USA 2001, Robert Luketic), Elle bewirbt sich per Video bei Harvard (0:15:31–0:18:45)

Die feministische Grundierung der ambivalenten Affektdramaturgie des Films kommt besonders deutlich in der Bewerbungsszene zum Ausdruck, in der Elle sich mittels eines Videos in der Ästhetik eines Ricky Martin-Clips der Jury präsentiert, die über die Aufnahme in Harvard entscheidet. Im Glitzerbikini posiert Elle in einem Whirlpool, um sich als zukünftige Anwältin den Professoren der Universität vorzustellen. Nacheinander illustrieren verschiedene Szenen, warum sich die Protagonistin aufgrund ihrer Qualifikationen hervorragend als Juristin eignet. So zeigen Ausschnitte, wie sie als Vorsitzende der Studentinnenvereinigung über die Qualität von Toilettenpapier abstimmen lässt, welch enormes Gedächtnis sie in Bezug auf Soap Operas vorweisen kann, oder auf welche Weise sie sich juristischer Rhetorik als Schild gegen sexuelle Belästigung bedient. Einmal leitet sie, am Kopfende eines langen Tischs im Konferenzraum stehend, eine Versammlung im Wohnheim und schlägt wie eine Richterin mit dem Vollzugshammer auf den Tisch. In einer anderen Szene ist Elle zu sehen, wie sie, gemeinsam mit ihrer Freundin, auf einer Luftmatratze über den wasserklaren Bildschirm gleitet und sich des Geschehens aus Days of our Lives erinnert. Und zuletzt präsentiert sie ihr ‚Fachvokabular‘, als ihr jemand hinterher pfeift: „I object!“.

Zum einen, so ließen sich die Szenen interpretieren, demonstrieren die Ausschnitte gemeinhin anerkannte Fähigkeiten wie Führungsqualität, Zielstrebigkeit, sicherer Ausdruck und Gebrauch juristischer Fachtermini sowie Flexibilität. Zum anderen gründen Elles derart definierbare Qualifikationen in Bereichen, die vollkommen fern juristischer Tätigkeiten zu liegen scheinen. Zunächst evoziert der Film eine eindeutig ablehnende Haltung gegenüber diesem Videoauftritt, zu aberwitzig erscheint Elles derart inszenierte Bewerbung und als absolut unvereinbar mit den Anforderungen der Universität. Doch eigentlich, so wird dann deutlich, lässt sich die Aufnahme, die dann trotz – oder wegen – dieses Auftritts erfolgt, gut begründen. Beide Dimensionen bleiben während der Bewerbungsszene bestehen. Somit entzieht sich das Bewerbungsvideo einer letztgültigen Kategorisierung.

Ähnlich wie am Ende des Films, als Elle den Fall gewinnt, weil sie über die entscheidenden Kenntnisse der Schönheitspflege verfügt, hinterfragen die Szenen gängige Wertevorstellungen, indem sie eine abschließende Entscheidung gegenüber der Protagonistin verunmöglichen. Handelt es sich um die Affirmation stereotyper Geschlechterbilder oder um deren Dekonstruktion? Wie zuvor beschrieben, geht es in dem Film weder nur um das eine, noch allein um das andere. Berücksichtigt man beiderlei Lesarten, entfaltet sich eine mögliche Neujustierung von Subjektkonzepten und eine wahrnehmbare Vieldeutigkeit von Weiblichkeit. Durch die Umdeutung macht Legally Blonde Weiblichkeit als eine Form alternativer Weltbezüge sichtbar. Und nicht zuletzt setzt sich der Film explizit mit feministischen Paradigmen auseinander bzw. macht sie zum Teil der Filmerfahrung. So findet sich in der Bewerbungssequenz das von Laura Mulvey herausgearbeitete Dispositiv „männlicher Blick/weibliches Objekt“ inszeniert – allerdings ohne es als völlig überholt, noch als vollkommen berechtigt darzustellen.

Um sich bei Harvard vorzustellen, schickt Elle ein Video ein, das für Staunen und Sprachlosigkeit nicht nur seitens der Professoren sorgt. Die durch die Grobkörnigkeit, die quer verlaufenden Linien, die Rahmung des Bildschirms hervorgebrachte Videoästhetik verweist auf die Repräsentationsebene der Bewerbung und die audiovisuelle Konstruktion der Figur. Zudem kennzeichnet das REC-Zeichen am oberen Bildrand die Präsenz der aufzeichnenden Kamera, die sich zugleich als Blick der Zuschauerin realisiert – um dann in den versteinerten Gesichtern der urteilenden (männlichen) Professoren zu münden.

Wie in einem Lehrstück stellt die kinematographische Bewegung auf diese Weise Schritt für Schritt den seit den 1970er Jahren so scharf kritisierten männlichen Blick des Hollywoodkinos aus. Gleichzeitig verschiebt der Film die herkömmliche Anordnung. In dem Moment, da die Kamera auf den aufgerissenen Augen und den offenen Mündern der Männerrunde landet, wird der zuvor durch das Video etablierte Blick der Zuschauerin als voyeuristisch enttarnt und zugleich diegetisch rückgebunden. So findet man sich einerseits selbst in der Position der Jury wieder und andererseits blickt man selbstreflexiv auf die nach Worten suchenden Repräsentanten der Ivy League.

Wenn am Ende der Sequenz der flimmernde Frauenkörper und das übergroße Lächeln mit den in schwarz-braun gehaltenen, fast unbewegten Bildern der Jury kollidieren, kommt eben jene ambivalente Haltung der Zuschauerin gegenüber Elle zum Ausdruck, die sich immer wieder einstellt. In diesem Moment der diegetischen Brechung kulminieren die extremen Gegensätze, die von Anfang an den Film bestimmen: die permanente Affirmation gesellschaftlicher Vorstellungen und die ständige Verunsicherung gängiger Paradigmen. Einerseits bestätigt die letzte Szene der Sequenz das von Mulvey proklamierte Paradigma männlicher Blick/weibliches Schauobjekt auf der Ebene der Handlung und andererseits verschiebt sich dessen Bedeutung in der Filmerfahrung. Denn das Bewerbungsvideo hat tatsächlich Erfolg – ob aufgrund ‚inhaltlicher‘ Werte oder Elles äußerlicher Erscheinung, lässt sich aus Zuschauerinnenperspektive nicht beurteilen. Die Frage, ob es um eine durch sexistische Logik bestimmte Entscheidung oder eine entscheidende emanzipatorische Handlung geht, bleibt offen.

Nachdem die Professoren das Video gesehen haben, müssen sie sich erst einmal sortieren. Zögerlich beginnt die Auswahlkommission die Qualifikationen der Bewerberin hervorzuheben. Dabei legt sie die Teilnahme an einem Ricky Martin Video als Musikinteresse aus und die Kreation eines Kunstpelzlippenstifts als Zeichen für Tierliebe. Auf Darstellungsebene verweist das Verhalten der Professoren auf die von Mulvey angeführte männliche Begehrensstruktur, hinsichtlich des Bildraums entfaltet sich ein ambivalentes Spannungsverhältnis, das eine geschlechtsspezifische Umdeutung erlaubt. Mulveys Idee vom patriarchalen Kino wird durch Legally Blonde eben nicht musealisiert bzw. feministische Positionen entpolitisiert, indem sie von der Populärkultur einverleibt werden, was ein gängiger Vorwurf gegenwärtiger Kritikerinnen ist, sondern vielmehr geht es um die Inszenierung von Repräsentanten eines schier ewig herrschenden Diskurses, der durch die gedeckte Farbgebung, den Glockenschlag und das sanfte Vogelgezwitscher als vergangen und nicht mehr zeitgemäß qualifiziert wird, und damit um die Notwendigkeit neuer Vorstellungsräume. Denn warum sollte Mode nicht Teil interdisziplinärer Forschung sein?

Differenz kommt hier in zweideutiger Form zum Ausdruck: zum einen durch die stereotype Zeichnung der Protagonistin als diskriminierende Abgrenzung im Sinne eines ‚Othering‘, zum anderen als Zeichen von Diversität. Indem das Video zwischendurch mit Szenen konfrontiert wird, in denen Elle (‚tatsächlich‘) für den LSAT (Law School Admission Test) lernt, verwebt die Bewerbungssequenz unterschiedliche Logiken miteinander. Zum einen können wir verfolgen, wie Elle als fleißige Studentin in der Bibliothek arbeitet, zum anderen repräsentiert das Video das Bild einer stereotypen Blondine. Neben dieser Kontrastmontage findet sich auch innerhalb der verschiedenen Szenen stets dieser Gegensatz veranschaulicht, etwa wenn Elle mit schmachtvollem Blick der Herde grölender, oben unbekleideter Jungs nachsieht, um ihre Augen dann wieder in das Buch zu richten; oder wenn ihre beiden Freundinnen ihr tägliches Workout-Programm absolvieren und währenddessen die Zeit stoppen für den Probetest.

Genau diese Gleichzeitigkeit von diametral entgegen gestellten Deutungsmöglichkeiten entfaltet in der Inszenierung von Elle als Leinwand-Typus ein nicht auflösbareres Spannungsverhältnis zwischen der Inszenierung stereotyper Geschlechterdifferenzen und vorhandenen Strukturen zuwiderlaufenden Vorstellungen. Der Film entzieht sich einem als ‚progressiv‘ versus ‚reaktionär‘ definierten Wertesystem und verweist auf diese unmöglich im Konkreten aufrechtzuerhaltenden Normierungen. Der Film inkorporiert nicht feministische Theorien, indem er sie als überholt ausstellt, sondern vielmehr macht er ihre Bedeutung erfahrbar und stellt identifikatorische Kategorien als relativ und fluide aus. In diesem Sinne ist es zu kurz gegriffen, Popkultur schlicht als gesellschaftlichen Seismografen zu betrachten, der Auskunft darüber gibt, wie es um den zeitgenössischen Feminismus bestellt ist.

2.1.5. Die kinematographische Repräsentation des Feminismus

Wenn es um das Bild der sterotypen Blondine geht, kommt man nicht umhin, sich mit Richard Dyers Ausführungen zum ‚dumb blonde stereotype‘ auseinanderzusetzen, haben diese doch das filmwissenschaftliche Denken über Stereotype und Repräsentation stark geprägt. In der Auseinandersetzung mit Walter Lippmanns Buch Public Opinion (Lippmann 1956), konstatiert Dyer in seinem Aufsatz „The Role of Stereotypes“ (Dyer 1999), dass Stereotype in der Regel pejorativ verwendet würden, obgleich sie eine grundsätzliche Möglichkeit des Weltbezugs und damit einen Aspekt des Denkens und der Repräsentation darstellten. Deshalb gehe es vor allem darum zu untersuchen, wie sich diese durch wen, auf welche Weise und zu welchem Zweck konstituierten (ebd., 1). Stereotype fungierten als soziale Ordnungsprozesse und Möglichkeit, sich gemeinschaftlich auf eine Welt zu beziehen (ebd., 3). Daher seien Stereotype wie die ‚dumme Blondine‘ nicht einfach zu fassen, sondern erforderten das Wissen einer komplexen sozialen Struktur. Dyer zitiert Tessa Perkins:

[T]o refer ‚correctly‘ to someone as a ‚dumb blonde‘, and to understand what is meant by that, implies a great deal more than hair colour and intelligence. It refers immediately to her sex, which refers to her status in society, her relationship to men, her inability to behave or think rationally, and so on. In short, it implies knowledge of a complex social structure.‘ (Perkins zit. nach Dyer, ebd., 2)

Während für Cavell die Differenz vor allem Vielfalt darstellt, wenn er erklärt, dass der Leinwand-Typus nicht die Ähnlichkeit mit Anderen kennzeichne, sondern das Getrenntsein, bedeutet Differenzierung für Dyer diskriminierende Abgrenzung im Sinne eines ‚Othering‘:

Stereotypes do not only, in concert with social types, map out the boundaries of acceptable and legitimate behaviour, they also insist on boundaries exactly at those points where in reality there are none. (Ebd., 5)

Trotz der pejorativen Wirkung von Stereotypen kommt Dyer am Ende auf die notwendige Funktion von Kategorisierungsprozessen zu sprechen:

All societies need to have relatively stable boundaries and categories, but this stability can be achieved within a context that recognizes the relativity and uncertainty of concepts. Such a stability is, however, achieved only in a situation of real, as opposed to imposed, consensus. (Ebd.)

Legally Blonde macht eben diese Relativität und Variabilität von Wertvorstellungen erfahrbar – eben genau mittels der Inszenierung von nicht aufrecht zu erhaltenden stereotypen Vorstellungen. In diesem Sinne erfüllt die Stereotypisierung jene Funktion, die auch Dyer in seinem bekannten Aufsatz „The Dumb Blonde Stereotype“ anführt, nämlich die Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Normen (vgl. Dyer 1979, 41ff.). Bemerkenswert ist allerdings, dass Weiblichkeit im gegenwärtigen Woman’s Film als identifikatorischer Bezugspunkt bestehen bleibt. Genau dadurch realisiert sich der bedeutungsstiftende Leinwand-Typus, wie Cavell ihn konzipiert. Einerseits entzieht sich Elle permanent dem Bild der stereotypen Blondine, indem sie zugleich zu dem Bild quer verlaufende Logiken verkörpert, andererseits argumentiert und agiert die Figur innerhalb eines als ‚weiblich‘ ausgewiesenen Bezugssystems, wenn sie Kenntnisse der Modebranche als Expertinnenwissen ausweist und Pinkheit zu ihrem Lebensmotto macht. Genau darin gründet die Affektdramaturgie von Legally Blonde. Es geht nicht um eine psychologisch definierte Protagonistin, sondern um ein Spiel mit Einstellungen, das sich mit der Hauptfigur entfaltet. Urteile entpuppen sich als Vor-Urteile, Kategorien stellen sich als unabschließbar und unbegründbar dar.

So scheint Legally Blonde einerseits Positionen der feministischen Filmtheorie der 1970er und 1980er Jahre zu verabschieden, andererseits macht der Film ihre Bedeutung im Zeitalter des sogenannten Postfeminismus geltend. Die Schaulust von Legally Blonde resultiert nicht allein aus der mittlerweile unzählige Male vollzogenen – und von Teresa de Lauretis kritisierten – Dekonstruktion weiblicher Geschlechtsidentität(en), sondern vor allem in der kinematographischen Erfahrung, dass die Kategorie ‚Frau‘ nichtsdestoweniger einen entscheidenden Bezugspunkt für die gesellschaftliche Verortung von Subjekten darstellt. Denn wie Butler schreibt: „Bevor die Repräsentation erweitert werden kann, muß man erst die Bedingungen erfüllen, die notwendig sind, um überhaupt Subjekt zu sein“ (Butler 1991, 16). Repräsentation und Produktion bzw. Konstruktion von Subjekten fallen zusammen. Problematisch ist dabei, dass dieser Produktionsprozess nicht als solcher gekennzeichnet ist, sondern dessen Effekt, die Repräsentation, als natürlich ausgewiesen wird. Somit erscheint etwa die Repräsentation von Frauen als ein Abbild einer bereits existierenden Gruppe.

Butler weist auf eben jenen machtpolitischen Mechanismus auch in der feministischen Auseinandersetzung hin:

Es genügt also nicht zu untersuchen, wie Frauen in Sprache und Politik vollständiger repräsentiert werden können. Die feministische Kritik muß auch begreifen, wie die Kategorie ‚Frau(en)‘, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll. (Butler 1991, 17)

Letztendlich stellt Butler die Konstitution eines feministischen Subjekts grundsätzlich infrage, was ihr heftige Kritik vieler Feministinnen eingebracht hat. Butler schreibt:

Möglicherweise eröffnet sich gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Kulturpolitik – in einer Epoche, die von einigen ‚post-feministisch‘ genannt wird – die Möglichkeit, aus feministischer Perspektive über den Zwang nachzudenken, ein Subjekt des Feminismus zu konstruieren. (Ebd., 21)

Entsprechend hinterfragt Butler die Kategorie ‚Frau‘ als identifikatorischen Bezugspunkt und gemeinsame politische Ausgangsposition und fordert eine

neue Form feministischer Politik […], eine Politik, die die veränderlichen Konstruktionen von Identität als methodische und normative Voraussetzung begreift, wenn nicht gar als politisches Ziel anstrebt. (Ebd.)

Legally Blonde führt meines Erachtens die politische Debatte um die Repräsentation von Subjekten fort und problematisiert das Verhältnis zwischen der angestrebten Emanzipation des Subjekts und seinen gesellschaftspolitischen Bedingungen. Damit stellt sich die Frage nach einem Ort der Kritik, wenn davon ausgegangen wird, dass die sozialen Bedingungen ohnehin rein patriarchalisch hergestellt werden. Oder wie es Monique Wittig auf den Punkt bringt: Wenn Frauen allein über das Geschlecht definiert werden bzw. nur als sexualisierte Wesen und diese Ebene wegfällt bzw. abgeschafft würde, dann löste man folglich auch die Kategorie ‚Frau‘ und damit ‚sich selbst‘ auf (Wittig (1992 [1980]). Aus feministischer Sicht gilt es demnach, ‚sich‘ einerseits als Subjekt sicht- und hörbar zu machen und andererseits die spezifischen politischen und kulturellen Bedingungen der (möglichen) Hervorbringung kritisch zu analysieren. „Vielleicht stellt sich heraus“, so Butler, „daß die Repräsentation als Ziel des Feminismus nur dann sinnvoll ist, wenn das Subjekt ‚Frau(en)‘ nirgendwo vorausgesetzt wird.“ (Butler 1999, 22)

Der ‚gegenwärtige Woman’s Film’ verhält sich im Fall von Legally Blonde zu dieser Problematik, indem er einerseits die Kategorie ‚Frau‘ als kollektiven Bezugspunkt konstituiert und andererseits die Definition von ‚Frau-Sein‘ als variabel und äußerst verschieden ausstellt. ‚Frau‘ dient dabei eben nicht als identifikatorischer Bezugspunkt, zu dem man sich in bekennender, affirmativer Weise verhalten muss. Vielmehr aktualisiert sich in der herausgearbeiteten Erfahrungsmodalität eine Form von Weiblichkeit, die – gewissermaßen unabhängig von Geschlechtlichkeit, genauer fern eines dichotomen Geschlechtsverständnisses – als emanzipatorisch empfunden wird. Damit spricht der Film sich gegen (die von Butler kritisierten) vergemeinschaftenden Identitätskonzepte aus, welche oftmals als notwendige Basis von Solidarität und Kollektivität verstanden werden. Legally Blonde hinterfragt vielmehr die politische Position, der zufolge es eine universale, einzigartige Weiblichkeit gibt, indem er gesellschaftliche Zuschreibungen als ursprungslos und performativ erfahrbar macht.

Anders als beim Horrorfilm, wo sich, wie Rhona J. Berenstein schreibt, hinter der Maske des Monsters eine Schönheit verberge (Berenstein 1997, 233), oder im Gegensatz zum Film Noir, der die Frau nach Doane als unheimliches Wesen zeichne (Doane 1991, 1), macht Legally Blonde erfahrbar, dass es kein Dahinter, keinen auffindbaren Ursprung gibt, dass Gender performativ ist, „‚in the sense that it constitutes as an effect the very subject it appears to express‘“ (Butler zit. nach Berenstein 1997, 248).

Somit wendet sich der Film sowohl gegen die feministische essentialistische Identitäts- und Repräsentationspolitik, die vor allem der Second Wave zugeschrieben wird und für ihre Homogenität und Exklusion stark kritisiert wurde, als auch gegen die Kategorie ‚Frau‘ als abstrakte Differenzierung zur Verfestigung patriarchaler Machtstrukturen. Gleichzeitig feiert der Film Weiblichkeit als Identität und zeichnet weiblich konnotierte Attribute wie Schönheit, Intuition und Empathie aus.

Genau in dieser irritierend-widersprüchlichen Inszenierungsweise entfaltet sich die Mehrdeutigkeit von Differenzierungen, die sowohl oppressiven Strukturen geschuldet sein können als auch politische Strategien von Gruppen darstellen, die sich solidarisieren und gegen herrschende Machtverhältnisse angehen möchten.[31] So wie für Cavell gerade die Differenz zu Anderen eine Loslösung von stereotypen Zuschreibungen und die Anerkennung von Individuen, im Sinne von Vielstimmigkeit bedeutet, rückt Dyer die diskriminierende Dimension von Unterscheidungen, im Sinne von Andersartigkeit, in den Vordergrund. Beide Dimensionen finden sich in Legally Blonde wieder.

Durch die ambivalente Inszenierung wird man als einzelne Zuschauerin (und nicht als Publikum) angesprochen, da man sich permanent in der Rolle der Richterin wiederfindet und sich keiner vorherrschenden, allgemeinen Meinung anschließen kann. Die Protagonistin verkörpert verschiedene Einstellungen, zu denen man sich unterschiedlich positionieren kann, sowohl distanziert als auch identifikatorisch bzw. ablehnend und/oder zustimmend.

Die emanzipatorische Erfahrungsmodalität gründet einerseits in einer überschwänglichen Affirmation von ‚Frau-Sein‘ und bezieht sich damit auf die Identifikationskategorie ‚Frau‘ und andererseits in der Loslösung von vorherrschenden Vorstellungen. Die vielseitige Lust an der audiovisuellen Inszenierung derart expliziter Weiblichkeit ließe sich als Möglichkeit interpretieren, sich einer temporären kollektiven Identität zu verschreiben, ohne ein politisches Manifest zu unterzeichnen.[32] In diesem Sinn lässt sich Legally Blonde als postfeministisch klassifizieren (und nichtsdestoweniger als Symptom eines „neoliberalen Geschlechterregimes“ kritisieren).

Obwohl der Film die Kategorie ‚Frau‘ als konstruiert ausstellt, etabliert er sie als entscheidenden Bezugspunkt. Damit konzipiert er einen Modus des „Undoing Gender“, der darauf abzielt, sich als eine Frau und nicht als die Frau wahrzunehmen[33] – unabhängig vom ‚tatsächlichen‘ Geschlecht der Zuschauerin. Der Film beschreibt, wie Elle – ebenso wenig wie die anderen Frauenfiguren – nicht jede Blondine verkörpert und zeigt, dass es ohnehin nicht die Blondine gibt.

2.2. Erin Brockovich – „No, I’m not a lawyer.“

Auch Erin Brockovich erzählt eine Erfolgsgeschichte, nämlich jene einer ehemaligen Schönheitskönigin und alleinerziehenden Mutter dreier Kinder aus der Unterschicht, die Stufe für Stufe die Leiter des Erfolgs erklimmt. Wie Reese Witherspoon in Legally Blonde spielt auch Julia Roberts eine Frau, die völlig unverhofft zur Staranwältin wird, da sie ihren Prinzipien treu bleibt. So inszeniert auch Erin Brockovich keine Entwicklung eines Charakters, sondern ein spezifisches Verhältnis von Zuschauerin und Hauptfigur, das sich als Modus des „Undoing Gender“ beschreiben lässt. Erins Aufstieg gründet nämlich weniger in der Protagonistin selbst, in deren ‚Weiterentwicklung‘, sondern in einer Odyssee von Überzeugungsarbeit – sowohl des diegetischen Publikums bzw. Umfelds als auch der Filmzuschauerin. In diesem Sinne realisiert sich die emanzipatorische Erfahrungsmodalität, die sich mit Erin Brockovich verbindet, nicht nur durch ein Handlungsprogramm der Hauptfigur, sondern ebenso durch die im Laufe des Films sich transformierende Einstellung der Zuschauerin zu dieser. Anhand des Films verdeutliche ich, dass den gegenwärtigen Woman’s Film ein Figurentypus auszeichnet, der als Inszenierung eines Verhältnisses erfahrbar wird, nicht aber als psychologisch beschreibbare Person.

Während ich in der Analyse von Legally Blonde anhand einzelner Sequenzen gezeigt habe, wie sich Weiblichkeit als Bildlichkeit in der ästhetischen Erfahrung konstituiert und auf welche Weise eine ambivalente Haltung gegenüber der Protagonistin grundsätzlich das Zuschauerinnengefühl bestimmt, werde ich anhand von Erin Brockovich erläutern, wie sich die Affektdramaturgie in der gesamten Dauer des Films realisiert und sich die Einstellung der Zuschauerin transformiert.

Ähnlich wie in Legally Blonde ist diese Veränderung zurückzuführen auf die insistierende Wiederholung von Irritationsmomenten – wenngleich auf ganz andere Weise. Während ich im vorangegangenen Kapitel beschrieben habe, wie sich der Leinwand-Typus zwischen der permanenten Aufrufung und gleichzeitigen Enttäuschung von Stereotypen entfaltet und somit den Prozess des Vor-Urteilens inszeniert, werde ich im Folgenden darüber hinaus untersuchen, wie sich das Verhältnis zwischen den Kategorien sex und gender beschrieben findet. Denn der Modus des „Undoing Gender“ in Erin Brockovich zielt darauf ab, die Trennung des sozialen Geschlechts von einem biologischen Geschlecht als überraschend möglich zu begreifen, wenn nicht gar zudem die Kategorien selbst in ihrer Aussagekraft zu hinterfragen.

Der Film erzählt u.a. die Geschichte einer Frau, die versucht, irgendwie ihre Familie über Wasser zu halten. Über einen Job als Assistentin in einem Anwaltsbüro stößt sie auf einen Giftmüllskandal, dessen Aufdeckung und öffentliche Verurteilung sie zu ihrem persönlichen Anliegen macht. Als eine Art Privatdetektivin versucht sie, die Täter vor Gericht zu bringen. Durch mühsamste Kleinarbeit – sie muss die Unterschriften aller betroffenen Anwohnerinnen Hinkleys gegen das schuldige Unternehmen Pacific Gas and Electric sammeln – gewinnt sie schließlich den Fall und erstreitet eine riesige Summe Schadenersatz. Bis zum Schluss muss sie dabei fortwährend gegen Vorurteile bzw. Verurteilungen ankämpfen – seitens der Kolleginnen und ihres Chefs und ebenfalls seitens des Filmpublikums. Denn ihre Erscheinung, die knappen Röcke, die engen, weit ausgeschnittenen Blusen, ihr aufbrausendes Gemüt und ihre vulgäre Ausdrucksweise zeichnen alles andere als das Bild einer Staranwältin.

2.2.1. Unübersetzbare (Bild-)Logiken

Gleich mit der ersten Sequenz (0:00:50–0:07:18), die sich in zwei Szenen unterteilt, skizziert der Film ein mehrdeutiges Bild einer Figur, die auf allen Ebenen zu scheitern scheint.


Erin Brockovich (USA 2000, Steven Soderbergh), Erin (Julia Roberts) beim Jobinterview (0:00:50-0:02:25)

Erin Brockovich beginnt mit einem Jobinterview. Eine schwarzes Tableau mit weißer Schrift erscheint: „This film is based on a true story“, ist zu lesen.[34] Dann konstatiert eine männliche Stimme aus dem Off: „You have no medical training.“ „No“, bestätigt eine weibliche Stimme, deren zugehöriger Körper durch eine portraitgroße Aufnahme Julia Roberts alsdann präsentiert wird. Eine deutlich blond gefärbte Mähne, blau geschminkte Augen und bunte Spaghettiträger, unter denen die Spitzen eines BHs hervorgucken, konturieren das Bild einer Frau, das im deutlichen Kontrast zu der Erscheinung des dezent und professionell gekleideten Arztes steht, der ihr gegenüber sitzt. Zugleich erkennen wir das makellose Star-Gesicht von Julia Roberts, das auf eine außerdiegetische Welt, Hollywood, verweist. Zum einen sehen wir also eine Frau im Interview, zum anderen erkennen wir Julia Roberts als einen der größten Stars Hollywoods wieder. Außerdem sitzt Pretty Woman vor uns, die Rolle, die Roberts 1990 den Durchbruch verschaffte und die seitdem untrennbar mit der Schauspielerin, im Sinne Cavells Leinwand-Typus, verknüpft ist und als fester Bestandteil zum gegenwärtigen Kino gehört. Wir sehen Julia Roberts alias Pretty Woman, wie sie Erin Brockovich gibt.

Wenn die Kamera durch einen jumpcut von der Portraitaufnahme in die nächst größere Einstellung, eine Halbtotale, wechselt, markiert die Bewegung eines Bewerbungsbogens in der unteren linken Bildecke die Position eines Gegenübers, der allerdings immer noch nicht zu sehen ist. Die zuvor gezeigten Einstellungen werden nun als gesehene hervorgehoben, der Blick auf Julia Roberts rückt in den Vordergrund und unsere eigene Zuschauerinnenposition wird als eine blickende ausgestellt.

Zwei Pole bestimmen nun den Bildraum, das Sehen und das Angesehen-Werden (im Sinne Mulveys to-be-looked-at-ness). Während der Interviewer, der sich nach einer weiteren kurzen Portraiteinstellung der Bewerberin nun endlich in weißem Kittel, Brille und Krawatte zeigt und dessen Stimme nun ent-akusmatisiert, d.h. visualisiert wird (vgl. Chion 1996), durch seine Position direkt vor den weißen Lamellen eines Fensters und der monochromen mise en scène flächig erscheint, unterstreicht der Gegenschuss auf die Protagonistin durch die Tiefenschärfe eine Körperlichkeit, die das Aussehen der Schauspielerin hervorstechen lässt. Zwei Bildqualitäten werden hier als geschlechtsspezifisch gegenübergestellt: die einer abstrakten Männlichkeit und jene einer materiellen Weiblichkeit.[35]

Auch auf der Dialogebene zeigen sich zwei gegensätzliche Welten. Was sich auf der Seite des Interviewers als abstrakt und institutionell äußert, da er mit den gleichfarbigen Räumlichkeiten zu verschmelzen scheint und körperlich kaum wahrnehmbar ist, erscheint auf der Seite der Interviewten als konkret und individuell. Aufgrund dieser konträren Inszenierung wird eine einfache Frage zu einem Übersetzungsproblem. Wenn der als Arzt ausgewiesene Mann von der geforderten medizinischen Ausbildung wissen will (es handelt sich also um eine Assistentinnenstelle, so soll die Zuschauerin mutmaßen), erzählt Julia Roberts von der intensiven Pflege ihrer Kinder – und von der gescheiterten Beziehung mit ihrem Ex-Mann. Was im Konkreten durchaus als qualifizierende Ausbildung beschrieben werden kann, liest sich durch die Brille des Arztes, des institutionellen, männlichen Repräsentanten, so stellt es der Film dar, als reine Privatsache und unzureichende medizinische Erfahrung. Die Frau findet sich aus dieser Perspektive als typisch mangelhaftes Wesen beschrieben. Ähnlich wie in einem Schiedsgericht kommt der Zuschauerin in dieser Szene eine dritte Position zu, die zwischen den zwei miteinander unvereinbaren Welten vermitteln soll – eine Aufgabe, die so sinnlos wie notwendig erscheint. Einerseits beziehen sich beide Seiten auf ein und dasselbe, nämlich auf die medizinische Ausbildung, und andererseits stellt der Film das Übersetzungsproblem als unlösbar dar. So sind beide Reaktionen verständlich: die sich unnötiger-, aber verständlicherweise abzeichnende Absage des Arztes, denn letztendlich war eine andere Form von Antwort und Rhetorik (weniger von Qualifikation) gefragt, als auch die Enttäuschung der Bewerberin. Ähnlich wie in Legally Blonde prallen in dieser Szene zwei diametral entgegen gestellte Logiken aufeinander: ein sich nach institutionellen Regeln richtendes abstraktes (männliches) Regime und die soziale Realität von (weiblichen) Subjekten. Der Standpunkt der Zuschauerin ist gespalten.

2.2.2. Pretty Woman und der Leinwand-Typus

Neben diesen beiden Bildlogiken führt der Film durch die Besetzung der Hauptrolle mit Julia Roberts eine weitere Dimension der Wahrnehmung ein. Dadurch überlappen sich verschiedene Ebenen der filmischen Darstellung: Zum einen erleben wir Julia Roberts als Leinwand-Typus der Pretty Woman, da sich die Schauspielerin aufgrund ihrer unverkennbaren Physiognomie und Mimik, des breiten Lächelns, der schlanken Figur, der langen Beine und auch aufgrund des knappen Kostüms nicht von der Rolle trennen lässt, die sie vor rund zwanzig Jahren berühmt gemacht hat. Diese Dimension zeigt sich insbesondere am Ende der Szene, als sich das Scheitern des Bewerbungsgesprächs abzeichnet. Plötzlich verschwindet das überdimensionale Lächeln, hört das Minenspiel auf, stoppen die Erklärungsversuche ihrer (eben durchaus) entsprechenden Qualifikationen. Das Schauspiel weicht der Präsentation der Darstellerin, Julia Roberts. Ebenso abrupt wie Roberts die Rolle der fürsorglichen, verantwortungsvollen Mutter ablegt, beendet der Film die Bewerbungsszene und setzt mit dem Vorspann ein.

Dass es sich im Grunde tatsächlich um Pretty Woman handelt, die sich als Arzthelferin versuchen wollte, bestätigt sich in der darauffolgenden Szene. Zigarette rauchend lehnt Roberts an einer Hauswand, während in weißen Lettern „Julia Roberts“ zu lesen ist. Die Kamera gleitet an ihr herunter, beginnend bei Sonnenbrille und Mähne, die im milden Sonnenlicht rot erscheint, fortschreitend über ihre Jeansjacke, den Minirock und über die nackten Beine bis zu den High Heels. „Erin Brockovich“ erscheint.

Pretty Woman wird als ästhetische Figur, als Leinwand-Typus im Cavell’schen Sinne inszeniert. Auch in Erin Brockovich verkörpert Roberts die soziale Rolle der Prostituierten auf eine ihr ganz eigene Weise. Das Spannungsverhältnis zwischen stereotypen Zuschreibungen und individueller Performance entfaltet sich allerdings auf andere Art als zuvor. Während die Protagonistin 1990 eine Entwicklung durchläuft und von einem Aschenbrödel zur Prinzessin wird, ist es nun die Haltung der Zuschauerin, die sich im Laufe des Films verändert. Inwiefern die verschiedenen Dimensionen der Hauptfigur (Julia Roberts, Pretty Woman, Erin Brockovich) in ihrer Gesamtheit den Leinwand-Typus konstituieren, ist eine interessante Frage. Dass die Figurenkonzeption in Erin Brockovich anders als in Legally Blonde funktioniert, liegt nicht zuletzt daran, dass die Rolle der Pretty Woman bereits existiert und Julia Roberts schon lange ein Star ist, wohingegen Reese Witherspoon die Figur Elle durch Legally Blonde erst hervorbringt und sie mit dem Film ihren Durchbruch feierte. Es scheint ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Hervorbringung neuer Stars und der Konzeption des genrekonstituierenden Leinwand-Typus zu bestehen.

2.2.3. Plurale Perspektiven

Die in der ersten Szene inszenierte ästhetische Konfrontation Erin Brockovichs mit ihrer Umgebung setzt sich in der nächsten Szene fort.


Erin Brockovich (USA 2000, Steven Soderbergh), Erin (Julia Roberts) im Zeugenstand (0:02:25-0:07:18)

Mitten auf einer Kreuzung wird sie kurz nach dem Bewerbungsgespräch von einem Jaguar wortwörtlich aus dem Weg geräumt. Aus der rechten Seite des Kaders schießt ein schwarzer Wagen hervor und drängt sie von der Bildfläche. Als Julia Roberts darauffolgend vor Gericht erscheint, werden wir mit einer ähnlichen Situation wie zuvor konfrontiert. Allerdings erleben wir nun multiple Perspektiven. Zudem sitzen wir tatsächlich in einem Gerichtssaal.

Im Zeugenstand erklärt Erin, wieder in portraithafter Aufnahme, was sich in der zuvor gesehenen Szene zugetragen hat. Während sie, in sichtbarer Halskrause, von dem Unfall und den Folgeschäden berichtet, schneidet der Film aus verschiedenen Perspektiven auf ihre Aussage: zunächst in einer Totalen, die als establishing shot des Gerichtssaals fungiert, dann in einer Halbtotalen, aus der Sicht der Geschworenen, und schließlich in portraithaften Aufnahmen, in beidseitigem Profil. Dadurch wird die Situation eines kreuzfeuerähnlichen Verhörs in Szene gesetzt und die Multiperspektivität des Filmpublikums auf die Protagonistin metaphorisch erfahrbar. Zugleich wird diese als Objekt und Subjekt von Wahrnehmung (auch aus ihrer Sicht zeigt der Film die Anwesenden im Saal) ins Zentrum des Gerichtsprozesses gerückt. Die solcherart inszenierte Wahrnehmung wird als spezifische Perspektive erfahrbar.

Als Erin Brockovich selbstverständlich erklärt, ja, sie habe mehr als einen, nämlich zwei Ex-Männer, wird klar, dass der Fall für sie verloren ist. Denn bis zu diesem Moment waren multiple Perspektiven möglich, auch die der fürsorglichen Mutter. Nun zeichnet sich das Bild einer Prostituierten, Pretty Woman, ab, als dränge die filmische Vergangenheit an die Oberfläche. Die Gesichter der Geschworenen verziehen sich. Als der Verteidiger des angeklagten Autofahrers, wieder ein Arzt, sie daraufhin zu provozieren beginnt, ruft sie: „That asshole smashed in my fucking neck!“ Dadurch fällt sie gewissermaßen selbst ihr Urteil. Während sie als verantwortungsvolle Mutter das innerdiegetische wie das außerfilmische Publikum auf ihrer Seite hatte, so zeigen es die Aufnahmen der Gesichter, vor allem die ihres Anwalts, entspricht sie nun genau den Unterstellungen des Verteidigers: Nämlich, dass sie mit zwei Ex-Männern, drei Kindern und 15.000 Dollar Schulden eine ziemlich verzweifelte Frau sein muss, für die ein Unfall mit einem Notarzt ein gefundenes Fressen sei. Damit realisiert der Film die Argumentation des Verteidigers als Empfinden der Zuschauerin, die wider besseres Wissen, denn schließlich war man Zeugin des Unfalls, nun dessen Perspektive teilt. Zugleich nimmt man eine dritte Perspektive ein, eine, die um Deutungshoheit ringende Sichtweisen umfasst. Der Film entfaltet eine heterodiegetische Narration.

Erneut werden wir Zeugin, wie zwei Welten aufeinander prallen und wie die subjektgebundene Perspektive Bedeutung und Sachverhalt bestimmt bzw. es eine eindeutige, d.h. rein objektive, allgemeingültige Sichtweise nicht geben kann. So kann auch das Bild der verzweifelten Mutter für und gegen die Protagonistin gewendet werden. Es kann Mitgefühl für die Klägerin auslösen, wenn es um den Kampf einer mittellosen Frau gegen einen gestandenen Arzt geht, oder Antipathie, wenn diese sich scheinbar keinerlei moralischen Werten und Anstandsregeln verpflichtet fühlt. Beide Dimensionen bestimmen das Zuschauerinnengefühl im Film. Letztendlich geht hier die Argumentation (des Verteidigers) dem Urteil voran.

Der Auftritt stellt sich als mehrdeutig dar. Zum einen verweisen das aus der üblichen, sie umgebenden, grau-schwarzen Kleiderordnung hervorstechende Kostüm (das eng anliegende weiße Minikleid mit Körbchen und roten, knalligen Blüten) und ihre laute Reaktion auf eine der Diegese von Erin Brockovich grundsätzlich verschiedene Welt, nämlich auf das Leben von Pretty Woman; zum anderen vermittelt das Scheitern aufgrund des zuvor bezeugten Unfalls abermals, wie in der ersten Szene, ein Mitgefühl für die Hauptfigur und ein Unrechtsgefühl gegenüber höheren Instanzen. Zugleich macht die multiperspektivische Inszenierung das Urteil des Gerichts sowie die Enttäuschung und Wut der Klägerin, wie zuvor in der Bewerbungsszene, nachvollziehbar. Denn durch die dritte Perspektive auf die zwei sich jeweils ausschließenden, miteinander konkurrierenden Sichtweisen wird eine plurale Perspektivität deutlich. Wir erkennen (an), dass beide Sichtweisen nebeneinander existieren können und trotzdem unvereinbar bleiben. Es ist diese Position, die das Verhältnis der Zuschauerin zur Protagonistin bestimmt und im Laufe des Films immer deutlicher wird, obgleich sich die Hauptfigur in keiner Weise verändert.

Gertrud Koch schreibt bezüglich der Diskussion um das identifikatorische Verhältnis zwischen Zuschauerin und Film: „Ich halte allerdings dafür, daß sich in solchen Ansprüchen (Empathie/Identifikation) an Literatur und Kunst ein naiver Unmittelbarkeitsglauben verbirgt, der von der regressiven Sehnsucht zeugt, in andren zu verschmelzen, anstatt die andren als von sich verschiedene zu begreifen, in Literatur also gerade die Erfahrung als fremde zu machen, als Facettierung und nicht Spiegelung der eigenen Identität.“ (Koch 1989 [1980], 47) Die von Erin Brockovich inszenierte Multiperspektivität ist auch in diesem Sinne zu begreifen. Das heißt, es gilt vor allem, die Protagonistin als von sich verschieden anzuerkennen. Gleichwohl zeichnet sich die emanzipatorische Erfahrungsmodalität auch dadurch aus, dass wir gemeinsam mit der Heldin den Siegeszug gegen das Unternehmen führen.

Wenn es also darum geht, den fulminanten Aufstieg von Erin Brockovich filmästhetisch nachzuvollziehen, gilt es, die Perspektive des Publikums auf die Hauptfigur zu untersuchen. Ich denke, dass sich die emanzipatorische Erfahrungsmodalität genau in dieser Multiperspektivität hinsichtlich der Protagonistin gründet. Indem Julia Roberts alias Pretty Woman alias Erin Brockovich die Zuschauerin ständig mit unabschließbaren Kategorisierungen bzw. Verurteilungen konfrontiert, entwickelt sich ein Perspektivenstreit, der sich schlussendlich zugunsten der Protagonistin entscheidet. Auf diese Weise, des (An)Erkennens der Unvereinbarkeit bzw. der Existenz verschiedener Perspektiven und der gleichzeitigen Positionierung für Erin Brockovich, realisiert sich der Erfolg der Protagonistin als Zuschauerinnengefühl.

2.2.4. Insistierende Irritationen

Innerdiegetisch lässt der Aufstieg Erin Brockovichs sich damit begründen, dass sie es schafft, im Laufe des Films genügend Unterschriften der von der Vergiftung betroffenen Anwohnerinnen Hinkleys zu sammeln und so das verantwortliche Unternehmen auf die Anklagebank zu bringen – obgleich dieser Gerichtsprozess nie zu sehen sein wird. Auf der Ebene ästhetischer Bildgestaltung stellt sich die Erfolgsgeschichte komplexer dar, auch hinsichtlich der inszenierten Geschlechtlichkeit, wie eingangs angedeutet. Denn das durch Betonung von Brüsten und Beinen sexualisierte Aussehen Julia Roberts – wenngleich dies eben auch auf die Figur der Pretty Woman zurückzuführen und nicht unabhängig von dieser genreästhetischen Dimension zu betrachten ist – spielt eine explizite Rolle in dem Film, für die Filmerfahrung ebenso wie für die Narration: Etwa wenn Erin Brockovich ihrem Chef[36] erklärt, welche Mittel sie einsetzen wird, um an die entscheidenden Akten zu kommen („They’re called boobs, Ed.“), oder sie ihrer neuen, verhassten Partnerin und juridischen Repräsentantin aus der Großstadt berichtet, durch zahlreiche Blowjobs an die Unterschriften gelangt zu sein.

Durch den gesamten Film schreitet Julia Roberts in High Heels und Minirock. Permanent ruft das derart als Pretty Woman inszenierte Bild die Vorstellung auf, Erin Brockovich schlafe sich hoch. Das Gegenteil ist allerdings der Fall, selbst wenn der Film fortwährend dieses Vorurteil aufruft. Beispielsweise zeigt der Film tatsächlich, wie sich die Protagonistin mit Hilfe ihres Dekolletés Zugang zu dem Firmenarchiv verschafft, als sie mit dem Angestellten flirtet, andererseits entspricht ihre Erklärung, dass sie sich für die Unterschriften prostituiert habe, nicht der narrativen Wahrheit. Ähnlich wie in Legally Blonde evoziert der Film ständig stereotype Erwartungen, um sie zu enttäuschen und sie – trotz des Erscheinungsbilds der Protagonistin – als völlig absurd und dennoch nicht unbegründet auszustellen. Allerdings werden sie nicht wie bei Elle übererfüllt, sondern laufen im Gegenteil ins Leere.

Indem der Film den Aufstieg Erin Brockovichs als Odyssee erfahrbar macht, wird ihr Erfolg als Resultat von Blut und Schweiß verständlich, d.h. als Ergebnis harter Arbeit. Wortwörtlich durchkämmt sie den gesamten Handlungsraum, horizontal wie vertikal: Sie klettert über Zäune, fährt ewig durch einsame Landstriche und steigt hinab in einen Tümpel. Einerseits dominiert das sexualisierte Aussehen von Julia Roberts den Film, andererseits zeigt der Fortgang der Geschichte, dass es ihre Handlungen sind, die zum erfolgreichen Abschluss des Gerichtsprozesses führen.

Auf der Ebene der Narration gründet der Erfolg der Protagonistin in der Dank detektivischer Detailarbeit geglückten Sammelklage. Als Filmerfahrung realisiert er sich durch die unveränderliche ästhetische Präsenz der Hauptfigur und das unaufhörliche Wiederholen der einzelnen Unterschriftenaktionen. Aus dieser Perspektive gründet ihr Erfolg wortwörtlich im Klinkenputzen. Im Laufe der Handlung gewinnt die Heldin auch ästhetisch die Oberhand. Nachdem sie anfangs wie aus einer anderen Welt bzw. einem anderen Film als völlig fehl am Platz bzw. in der Diegese inszeniert wird, erobert sie in der Dauer der Wahrnehmung den Bildraum.

Erin Brockovich_Büro
2.1. Screenshot aus Erin Brockovich (USA 2000, Steven Soderbergh), Erin erhält einen fetten Bonus.

Beide, bereits in der ersten Szene eingeführten Logiken, bringt die letzte Sequenz des Films (1:57:18–2:01:35) in ihrer Unvereinbarkeit auf den Punkt. Nachdem sie die spektakuläre Sammelklage (die Bedeutung dieses Wortes, das aufwendige Sammeln der Unterschriften durch mühsame Überzeugungsarbeit, wird hier am eigenen Leib erfahrbar) gegen das milliardenschwere Unternehmen gewonnen haben, sitzt Julia Roberts wieder oder vielmehr noch immer in einem korsettartigen Kostüm in der Chefetage der neuen Kanzlei (Screenshot 2.1.). Anders als in dem Film Pretty Woman, in dem sich Julia Roberts von der Prostituierten zur Dame entwickelt, durch die entsprechenden Gesten und Kleidung, und damit einen gesellschaftlichen Aufstieg vollzieht, bleibt Erin Brockovich bis zur letzten Einstellung ihren Prinzipien treu, d.h. es verändert sich weder ihr Ausdruck noch ihr Aussehen.

Doch obgleich wir in der Dauer der Rezeption miterlebt haben, wie steinig der Weg nach oben war, möchte man bis zum Schluss seinen Augen nicht trauen und Einspruch erheben. Gleichzeitig überzeugt uns der Film von der möglichen Gleichzeitigkeit der bis dahin widerstreitenden Perspektiven, denn Erin Brockovich hat den Fall allen Widerständen und Vorurteilen zum Trotz gewinnen können und die Spitze des Erfolgs erklommen. Wie in Legally Blonde ist es die Einstellung der Zuschauerin, die Erin Brockovich transformiert. Weder wird die Hauptfigur auf irgendeine Art individueller oder entwickelt sich, im Sinne eines Charakters, noch wird der erste Eindruck von der Protagonistin aufgehoben. Die emanzipatorische Erfahrungsmodalität gründet genau in diesem Einstellungswechsel seitens der Zuschauerin, selbst wenn die Bilder bis zuletzt irritieren. Doch durch das permanente Insistieren der oben beschriebenen Perspektiven mittels der Hauptfigur weicht das anfängliche Unbehagen Stück für Stück im Laufe des Films. Erst mit dem letzten Bild und mit dem erfolgreichen Abschluss des Falls, der Beförderung und dem Dank der Anwohnerinnen Hinkleys, stellt sich das ambivalente Verhältnis zu Erin Brockovich als aushaltbar heraus. Genau dieses bis zum Ende währende Insistieren der widerstreitenden Logiken konstituiert den Modus des „Undoing Gender“, der sich entlang des Leinwand-Typus der Pretty Woman als paradoxe Filmerfahrung entfaltet.

2.2.5. sex und gender

Zwar denke ich, dass sich Erin Brockovich weniger explizit auf feministische Motive und Paradigmen bezieht bzw. beziehen lässt als Legally Blonde, doch bietet die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Identitätskonstruktionen und den Kategorien sex und gender eine Möglichkeit, die Ambivalenz der Hauptfigur näher zu untersuchen. Ich gehe davon aus, dass das Spannungsfeld zwischen permanentem Aus-dem-Rahmen-Fallen, fortwährender Inkompatibilität und gleichzeitiger insistierend-irritierender ästhetischer Präsenz der Hauptfigur als Kritik vorherrschender Vorstellungen der beschriebenen Relation von sex und gender erfahrbar wird.

Die Unterscheidung zwischen sex und gender differenziert zwischen einem biologischen, anatomischen Geschlecht, das sich an der Reproduktion ausrichtet, und einem sozialen Geschlecht, das die sozial und kulturell konstruierte Geschlechtlichkeit eines Individuums fasst. Das Begriffspaar sex und gender ermöglicht die Erforschung von Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und Geschlechterverhältnissen als soziale, politische und kulturelle Prozesse und damit die unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen von Differenzierungen. In den Auseinandersetzungen um diese Kategorien spielt das Verhältnis zwischen gender und sex eine entscheidende Rolle. Ob sex gender vorausgeht, das heißt ob das soziale Geschlecht eine Ausformung des biologischen Geschlechts darstellt oder ob, umgekehrt, gender sex definiert, ob also von sozialen Verhältnissen auf biologische Geschlechterdifferenzen geschlossen wird bzw. jene mittels diesen legitimiert werden, oder aber ob beide Kategorien gleichbedeutend nebeneinander stehen, sind zentrale Fragen der feministischen Debatten.[37]

Wenn der Film Erin Brockovich die Protagonistin in einem Spannungsfeld zwischen Repräsentation, das heißt der Rolle der Mutter oder Prostituierten, und konkretem, sozialem Subjekt, nämlich der alleinstehenden, arbeitenden Mutter dreier Kinder, inszeniert, reflektiert er damit die Bedeutung und Funktion von sex und gender und fragt nach den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen von ‚Frau-Sein‘ sowie dessen Konstitution. Wie bereits ausgeführt, ist es bemerkenswert, dass das ausgestellte Aussehen von Julia Roberts (das fast pausenlos zu betrachtende Dekolleté und die langen, nackten Beine) mal mehr, mal weniger oder überhaupt keine Rolle für den Film spielt. Ständig verändert sich unsere Wahrnehmung hinsichtlich der sexualisierten Körperlichkeit von Pretty Woman.

Die sonst mit derartigen Bildern einhergehende Kritik, dass Frauen allein als Spektakel inszeniert würden und keinerlei Subjektstatus in Filmen erführen, würde zu kurz greifen. Meines Erachtens gründet diese Form von Ablehnung eher in einem grundsätzlichen, nachvollziehbaren Missmut gegenüber medialen Darstellungsweisen von Frauen, würde diesem Film allerdings keinesfalls gerecht – nicht nur weil die Handlung explizit durch die Hauptfigur ihren Fortgang findet. Julia Roberts ist die treibende Kraft des Films und strukturiert die ästhetische Erfahrung der Zuschauenden, die sich eben nicht, wie Mulvey mit Blick auf das klassische Hollywoodkino behauptet, in einem voyeuristischen oder fetischistischen, das heißt ‚männlichen‘ Blick realisiert.

Zur Analyse der Hauptfigur in Erin Brockovich stütze ich mich insbesondere auf Christine Delphy, die beschreibt, inwiefern das soziale Geschlecht das biologische begründet und nicht umgekehrt (dass sex durch gender zum Ausdruck kommt).[38] Im Anschluss an Delphys Argumentation in ihrem Aufsatz „Rethinking Sex and Gender“ (Delphy 1993) gehe ich davon aus, dass gender sex vorausgeht – und nicht umgekehrt. Obgleich es mittlerweile Konsens ist, dass gender eine soziale Kategorie darstellt und die Bedeutungen von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ je nach kulturhistorischem Kontext variieren, wird weiterhin angenommen, dass sex als biologisches Geschlecht die Ausgangsbasis der verschiedenen sozialen Ausformungen bildet. Sex wird dabei als konstant und natürlich betrachtet – gewissermaßen als ‚Container‘, so Delphy, der gender als variablen ‚Inhalt‘ birgt. Trotzdem es sich gezeigt hat, dass gender so unterschiedliche Ausprägungen, unabhängig vom biologischem Geschlecht, annimmt, wird die Frage, welche Rückschlüsse, umgekehrt, von gender auf sex gezogen werden, nicht gestellt. Um die Konstruktion von Geschlecht zu erklären, wird weiterhin auf eine dichotome Geschlechterdifferenz verwiesen.[39] Dabei ist die Erklärung bereits Teil der unausgesprochenen Voraussetzung, nämlich dass Differenzen gegeben sind und als soziale Kategorien Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen darstellen.

Delphy argumentiert hingegen, dass die geschlechtlichen Unterscheidungen immer schon Hierarchisierungen darstellen. Monique Wittig konstatiert diesbezüglich: „It is oppression that creates sex and not the contrary.“ (Wittig (1992 [1976], 2) Dass es die Kategorie sex gebe, zeuge von struktureller Ungleichheit, so Wittigs These. Die Kategorie sex gründet ihr zufolge in gesellschaftlichen Diskriminierungen und nicht umgekehrt.

Im Anschluss an Wittig denke auch ich, dass oppressive Differenzen mit dem biologischen Geschlecht legitimiert werden, sie aber keinesfalls als logische Konsequenz bereits bestehender Kategorien zu fassen sind. Das heißt zum Beispiel, dass bestimmte Menschen nicht wählen dürfen, wird damit gerechtfertigt, dass sie ein bestimmtes, bereits vorhandenes Geschlecht besäßen. Doch erst in diesem Moment spielt das biologische Geschlecht eine Rolle bzw. wird nach Butler überhaupt erst konstituiert. Es wird als Ausgangspunkt definiert, obgleich die Bewegung eine umgekehrte war. Denn zunächst wurden Menschen als eine bestimmte Gruppe (z.B. Frauen), definiert und von der Wahl ausgeschlossen und erst anschließend wird diese Differenzierung mit einer scheinbar unumstößlichen Begründung (z.B. weibliches Geschlecht) legitimiert. Was als logische Konsequenz erscheint, wird naturalisiert und ist im Grunde machtpolitische Kalkulation. Das biologische Geschlecht stellt somit einen Effekt struktureller Ungleichheiten dar. Entsprechend stellt gender nach Delphy einen spezifischen Differenzierungsmodus dar, der asymmetrisch funktioniert – anders als beispielsweise bei Gemüse, wo zwischen zahlreichen Sorten unterschieden wird, ohne sie zu klassifizieren (Delphy 1993, 6). Differenzen müssen nicht unweigerlich hierarchisch oder asymmetrisch funktionieren.

Delphy kritisiert zudem, dass sex mit Sexualität und diese mit Fortpflanzung gleichgesetzt werde und fragt, warum das Geschlecht überhaupt solch eine große Rolle für Identität spielen solle, wenn es doch im Grunde so wenig Aussagekraft besitze. „What they never ask is why [eigene Hervorhebung] sex should give rise to any sort of social classification.“ (Delphy 1993, 3) Weiter fragt sie, „Why it is not limited to the domain of procreation.“ (Ebd., 4) Variationen und Abweichungen blieben in der Diskussion um das Verhältnis von biologischem Geschlecht und Reproduktion unbeachtet. Beispielsweise ließe sich anhand des Penis nicht bestimmen, ob jemand Kinder gebären könne oder nicht. Frauen, die zwar keinen Penis hätten, aber prinzipiell unfruchtbar seien oder älter, könnten keinen Nachwuchs erzeugen (ebd., 5).

Am Ende ihres Aufsatzes unterstreicht Delphy, dass das, was existiere, nicht existieren müsse und plädiert dafür, sich Unvorstellbares vorzustellen: nämlich dass es keine Geschlechterdifferenzen geben müsse. Ähnlich wie Butler dies hinsichtlich der Frau als Subjekt des Feminismus formuliert hat, schreibt Delphy:

In conclusion, I would say that perhaps we shall only really be able to think about gender on the day when we can imagine nongender. But if Newton could do it for falling apples, we should be able to do it for ourselves as women. (Delphy 1993, 9)

Erin Brockovich stellt die Kategorie sex als ‚Container‘ aus und hinterfragt die Gültigkeit von Weiblichkeit als sichtbare Eigenschaft. Denn die Physiognomie der Schauspielerin tritt vor allem in Hinblick auf den Leinwand-Typus der Pretty Woman hervor und wird somit, wenn man so möchte, selbstreflexiv, aber vor allem genreästhetisch inszeniert. In Bezug auf Erin Brockovich als handelnde Figur ist sie weniger entscheidend und fungiert bloß als Hülle. Geschlechtsspezifische Identifizierungsprozesse anhand der äußerlichen Erscheinung laufen ins Leere, denn eine entsprechende soziale Identität stellt der Film nicht her.

Erin Brockovich verunmöglicht nicht nur eine kohärente Verbindung zwischen den Kategorien sex und gender, sondern stellt sie darüber hinaus in ihrer jeweiligen Aussagekraft infrage. Zum einen wird das Verhalten der Hauptfigur als kalkuliert und gespielt, als Performance und eine Frage der Perspektive dargestellt, etwa wenn sie als fürsorgliche bzw. verzweifelte Mutter im Gerichtssaal auftritt; zum anderen erscheint sie durch ihr rotziges und wütendes, als unpassend definierbares Auftreten als alles andere als ‚typisch weiblich‘. Aus dieser Sicht sind die Referenzen zu Pretty Woman wiederum weniger als intertextuelle Bezüge zu betrachten, sondern als eine Auseinandersetzung mit eben jener Problematik zwischen geschlechtsdefinierter Repräsentation und einzelnem Subjekt. Letztendlich lassen sich die Handlungen der Hauptfigur nämlich nicht zurückführen auf ihr biologisches Geschlecht, wie man angesichts der als weiblich gekennzeichneten Physiognomie anzunehmen geneigt ist.

ErinBrockovich_Lohnvorschuss
2.2. Screenshot aus Erine Brockovich (USA 2000, Steven Soderbergh), Erin bittet um einen Vorschuss.

Erin Brockovich verdeutlicht die ansonsten übliche und von Delphy so scharf kritisierte Denkbewegung, wonach Gender eine Ausprägung biologischer Dispositionen darstellt, indem er die in einem weiblichen Körper begründete Annahme weiblicher Performanz ins Leere laufen lässt und sie als Vorurteile definiert. Die Hauptfigur verhält sich eben nicht so, wie es der geschlechtlich definierbare Körper vermuten ließe. Weder prostituiert sich die Protagonistin, obwohl sie in High Heels und Minirock ins Anwaltsbüro marschiert und einen Bündel Geldscheine als Vorauszahlung erbittet (2.2.), noch schläft sie mit dem Angestellten des Firmenarchivs, um an die Geschäftsberichte zu gelangen. In beiden Situationen weist der Film die Geschlechtlichkeit der Protagonistin als oberflächlich, ohne ‚Inhalt‘, und damit letztendlich als irrelevant aus. Auf der Handlungsebene geht es um einen Lohnvorschuss, ikonografisch verweist die Szene auf die Bezahlung einer Prostituierten. Eben diese bedeutungsschwangere Dimension kennzeichnet die Ästhetik des Films, die sich entlang der Herausstellung stereotyper Zuschreibungen entfaltet.

Zwar ließe sich argumentieren, dass High Heels und Minirock als Artefakte dem sozialen Geschlecht zuzuordnen sind und dass der Film dementsprechend Delphys Kritik bestätigt und gender als Ausprägung von sex fassbar macht (sie kleidet sich so, da sie weiblich ist und wird dadurch als Frau intelligibel), doch halte ich dagegen, dass die Kostümierung den Körper als weiblich überhaupt erst definierbar macht und sich, wenn überhaupt, umgekehrt die Bewegung von gender zu sex vollzieht. Doch im Grunde, so behaupte ich, zielt die untrennbar vom Körper wahrzunehmende Kostümierung vor allem auf den Leinwand-Typus Pretty Woman ab, dem nichtsdestotrotz eine bestimmte gendersex-Relation eingeschrieben ist. In Erin Brockovich bleibt die Kategorie sex als ‚Container‘ ungefüllt und erweist sich als unbedeutend. Eine „Geschlechter-Intelligibilität“ im Sinne Butlers verwehrt der Film.

Anders als in Legally Blonde, wo die Hauptfigur als Weiblichkeit in Person inszeniert wird, da das anatomische mit dem sozialen Geschlecht derart zusammenfällt, dass keine Unterscheidungen zwischen den beiden Kategorien mehr möglich sind, zeichnet sich Erin Brockovich gerade durch die Trennung der beiden Ebenen aus und inszeniert sie als jeweils unabhängig voneinander. Während Erin Brockovich so Geschlechterdifferenzen in ihrer Relevanz für die Identitätsbestimmung hinterfragt, weist Legally Blonde mittels der überzeichneten Inszenierung vor allem auf deren Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit und die unterschiedlichen Funktionen und Effekte hin.

Erin Brockovich stellt die Vorstellung einer kohärenten sexgender-Identität ebenso bezüglich des männlichen Geschlechts als fragwürdig aus, wenn sich der durch ein aufbrausendes Motorrad als stereotyper Rocker und exemplarischer Repräsentant von Männlichkeit eingeführte Nachbar (0:15:50–0:18:17) und späterer Freund Erin Brockovichs als perfekter Babysitter entpuppt. Durch eben dieses männliche Pendant zur Protagonistin rückt die soziale Dimension von Geschlechtlichkeit in den Vordergrund.


Erin Brockovich (USA 2000, Steven Soderbergh), Erin (Julia Roberts) trifft zum ersten Mal auf ihren Nachbarn (0:15:50–0:18:17)

Zwar etabliert der Film damit eine dichotome – wenngleich in ihr Gegenteil gewendete – Geschlechterordnung, doch wird sie zugleich als instabil ausgewiesen. Wenn der Rocker seine aufgrund der Ruhestörung genervte Nachbarin um ihre Telefonnummer bittet, ruft der Film wiedererkennbare Geschlechterbilder auf. Wenn er später mit ihren Kindern Karten spielt und gemeinsam mit ihnen isst, vergisst man die aufbrausenden Motoren. Die angesprochene Geschlechtermatrix gerät ins Wanken. Zwar bilden ‚Mann‘ und ‚Frau‘ weiterhin identifikatorische Bezugspunkte, doch nicht unbedingt als zwei sich ausschließende, oppositionelle oder ergänzende, komplementäre Kategorien. So wird die Vorstellung eines kohärenten Verhältnisses zwischen biologischem und sozialem Geschlecht durch die variable, entgegen dichotomen Geschlechterverhältnissen inszenierte Rollenverteilung aufgebrochen, zumindest jedoch nicht reproduziert.

In dem Augenblick, da der Mann die Kinderbetreuung übernimmt und auf die ausbleibende Bezahlung hinweist, stellt sich diese als tatsächliche Arbeit dar, so ließe sich argumentieren. Unter vertauschten Vorzeichen wird Kinderbetreuung als Arbeit anerkannt. Was in Verbindung mit der Protagonistin als natürlich bzw. unnatürlich erscheinen mag, wenn sie die Rolle der Mutter nicht auszufüllen vermag, hebt die variable Rollenverteilung des Films als unausgesprochene Voraussetzung von geschlechtsspezifischen Identifizierungsprozessen hervor. Doch im Grunde stellt der Film von Anfang an aus, dass Erin Brockovich mindestens zwei Jobs zu meistern hat, nämlich die Erziehung und Verpflegung der zwei Töchter und des Sohnes sowie schlichtweg den Gelderwerb. Gleich nach dem Gerichtsprozess muss sie nach Hause eilen, um die Kinder einzusammeln. Als sie dann in ein Haus voller Chaos, mit offenen Schränken und leerem Kühlschrank, tritt, spiegelt sich darin die desperate Lebenssituation wider. Die Kinder sind zu füttern, die Rechnungen zu bezahlen. In Erin Brockovich erweisen sich sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht als ungeeignet zur Identitätsbestimmung eines Subjekts.

2.2.6. Der Klassenkampf

Obgleich sich die feministische Auseinandersetzung um die Kategorien sex und gender produktiv auf den Film beziehen lässt, um die Inszenierung der Hauptfigur hinsichtlich der Geschlechtlichkeit zu fassen, scheint eine weitere bzw. andere Dimension entscheidend, um die emanzipatorische Erfahrungsmodalität des Films zu identifizieren: die Kategorie der Klasse.

Denn der Modus des „Undoing Gender“ realisiert sich in Erin Brockovich nicht nur durch die Auflösung bestehender Geschlechtskategorien, sondern auch durch die Hervorhebung der sozialen Situation eines historisch-realen, weiblichen Subjekts. Die emanzipatorische Dimension ist nicht nur geschlechtspolitisch zu begründen, sondern ebenso mit der sozialen Schieflage, die der Film anhand der zwei beschriebenen gegensätzlichen Bildlogiken, die einer institutionellen Welt und die der persönlichen Erin Brockovichs, inszeniert. Dabei repräsentiert Erin Brockovich eine Frau aus der Unterschicht, eine alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die sich nur mit Mühe und Not über Wasser hält, die zudem keine Scheu vor Institutionen aufweist bzw. entgegen deren Regeln spielt und somit ständig aus dem Rahmen fällt und die folglich in entscheidenden Situationen, bei der Bewerbung oder im Gerichtssaal, scheitert. Sie flucht, wenn jemand sie wütend macht und ungerecht ist, und sitzt bis zuletzt in schwarzem Minilederrock (anstatt im blauen oder grauen Kostüm wie ihre Kolleginnen) im Anwaltsbüro (dieses Mal allerdings auf der anderen Seite des Schreibtischs als zu Beginn des Films beim Interview). Erin sticht ebenso ins Auge wie Elle in Legally Blonde und verhält sich gleichermaßen auffällig wie Gracie Hart in Miss Congeniality.

Allen institutionellen Widerständen, den Ärzten, Richtern und Anwälten zum Trotz („No, I’m not a lawyer“, erklärt sie den Bewohnerinnen von Hinkley) folgt sie ihren Überzeugungen im Dienste der Gerechtigkeit. Wo ein Wille, da ein Weg, so erfährt es die Zuschauerin durch die Affektdramaturgie des Films. Die Unterschriftensammlung stellt sich als mühsame Kleinstarbeit dar, als harte, ‚richtige‘ Arbeit, während die Kolleginnen aus der Großstadt als hilflose Aktensammlerinnen präsentiert werden, die, hinterm Schreibtisch sitzend, den Kontakt zur ‚realen‘ Welt, d.h. den Bürgerinnen, verloren haben.[40] Denn mit den ‚echten‘ Anwältinnen wollen diese nicht mehr reden, eine gemeinsame Sprache lässt sich nicht finden. Erin Brockovich muss übersetzen. Sie wird zur Stimme des Volkes.
Erin Brockovich erzählt eine Aufstiegsgeschichte als erfolgreichen Kampf einer Frau der Unterschicht gegen ‚die da oben‘, einer Frau, die sich ihre finanzielle, berufliche und sexuelle Unabhängigkeit erst erarbeiten muss. Das heißt die sexuelle Unabhängigkeit ist in dem Film zweitrangig. Die emanzipatorische Bewegung ist nicht allein in der Loslösung einer geschlechtsbestimmten Identität zu sehen. Aus einer feministischen Perspektive, die sich allein auf dichotome Geschlechtsstrukturen stützt, stellt Erin Brockovich mit ihrem bis zuletzt unveränderten Aussehen alles andere als eine emanzipierte Frau dar. Doch wenn es darum geht, Identitätspolitik nicht essentialistisch zu fassen, sondern eine Vielzahl von Differenzkategorien einzubeziehen, wobei Geschlecht nicht zwangsläufig die alleinige oder die bedeutsamste Kategorie darstellt, dann eröffnet sich eine Perspektive, aus der sich in dem Erfolg der Protagonistin eine emanzipatorische Erfahrungsmodalität realisiert, die sich in erster Linie anhand der Kategorie ‚Klasse‘ entfaltet. Indem der Film eine Bewegung von ‚unten‘ nach ‚oben‘ inszeniert und die Kategorie Geschlecht als eine von vielen Differenzkategorien erfahrbar macht, wendet er sich gegen die Forderung eines homogenen, ‚politisch korrekten‘ Frauenbildes und verweist auf die unterschiedlichen Situationen real-historischer Subjekte, die unter der Kategorie ‚Frau‘ mit einer Gruppe identifiziert werden.

In diesem Sinne bezieht sich Erin Brockovich auf Theorien, die unter dem Stichwort der Intersektionalitätsforschung weitere Differenzkategorien wie Klasse, Ethnizität, Sexualität etc. berücksichtigen, um gesellschaftliche Positionen von Frauen angemessen zu artikulieren bzw. grundlegend zu überdenken und politische Solidarisierungsstrategien zu entwickeln. Damit schließt der Film an feministische Positionen an, die nach der Produktivität der Kategorie ‚Gender‘ fragen und diese als nicht mehr länger geeignet betrachten, um Identitätskonzepte und Subjektpositionen zu begreifen. Diese vertreten die Ansicht, dass die Dynamik und Komplexität verschiedener Identitätskategorien stärker berücksichtigt werden müssen, um Machtverhältnisse zu beschreiben. So verweist auch die Arbeitsteilung zwischen Erin Brockovich und ihrem Freund weniger auf eine geschlechtliche Gleichberechtigung als vielmehr auf die soziale Notlage der Protagonistin. Erin Brockovich muss arbeiten, um überhaupt überleben zu können.

Geschlechterdifferenz spielt vor allem aus der bürgerlichen Perspektive eine Rolle. Charlotte Brundson hebt zum Beispiel hervor, inwiefern die kulturwissenschaftlich ausgerichtete feministische Medienforschung bis in die späten 1980er Jahre die ‚Hausfrau‘ mit der ‚normalen Frau‘ gleichgesetzt und als Untersuchungsobjekt vorausgesetzt haben, obgleich sie eigentlich eine ganz spezifische Bedeutungskonstruktion weiblicher Subjekte, nämlich jene „überwiegend weiße[r] und relativ wohlhabende[r] (d.h. eine Hausfrauenexistenz führende[r] heterosexueller Frauen)“ analysiert und damit eine ganz spezifische feministische Perspektive eingenommen haben. (McRobbie 2010, 34f.) „Tatsächlich“, so McRobbie, „eröffnete das Konzept der ‚Hausfrau‘ bestimmte feministische Forschungsperspektiven, aber zugleich wurde übersehen, dass diese Binarität [Weiblichkeit und Feminismus] nur eine partielle Analyse erlaubte und andere soziale Milieus und Konstellationen völlig außer Acht ließ.“ (McRobbie 2010, 34f.) Aus der Sicht der Klasse muss man sich unabhängig von der geschlechtlichen Identität zusammenschließen, um sich behaupten zu können. Aus diesem Grund werden die Rollenbilder aufgebrochen – nicht zum Zwecke eines emanzipatorischen Akts im Sinne eines Feminismus, der sich allein auf die binäre Geschlechterdifferenzierung bezieht. Feminismus ist eben nicht nur eine Frage des Geschlechts und nicht nur Sache der akademischen Mittelschichtsfrau, so lässt sich das permanente Insistieren der unverstellten Präsenz der Hauptfigur interpretieren. Auch darin gründet die Überzeugungskraft des Films, die sich seitens der Zuschauerin realisiert. Bis zum Schluss behält die Protagonistin ihr explizit ‚weiblich-proletarisches‘ Auftreten (fluchend und unverblümt in Minirock, High Heels und Lederbustier) bei. Es ist die Einstellung der Zuschauerin, die sich im Laufe des Films ändert bzw. ändern muss. Emanzipation ist dabei untrennbar mit einem Klassenkampf verbunden.

Die emanzipatorische Erfahrungsmodalität konstituiert sich in Erin Brockovich in einem Klassenkampf gegen ‚die da oben‘. Erin Brockovich verkörpert den „American Dream“, die Möglichkeit eines jeden Individuums zum sozialen Aufstieg. Damit vollzieht sich eine dem Gangsterfilm völlig widerstrebende Logik. Nach einem fulminanten Aufstieg erlebt der Gangster stets einen ebenso radikalen Fall. Damit weise der Gangsterfilm den ‚Amerikanismus‘, die Forderungen eines modernen Lebens zurück, so Robert Warshow (vgl. Warshow 1964). Während der Gangster sich als Individuum aus der Masse herausheben muss, um jemand zu sein (to be somebody) und Erfolg zu haben, und schließlich wieder der Anonymität der Gosse, des Todes zufällt, eben weil er sich als Individuum, entgegen der Masse behauptet hat, repräsentiert Erin Brockovich als Individuum die Bürgerinnen Hinkleys, das Volk, im Prozess gegen die zu Unrecht Herrschenden. Erin Brockovich erzählt von der Möglichkeit, sich gerade durch Individualität und ‚Prinzipientreue‘ im Namen aller zu behaupten. Persönliche Werte wie individuelles Streben nach Erfolg und Anerkennung durch harte Arbeit fallen mit allgemeingültigen, nationalen Werten wie Gerechtigkeit, moralische Integrität, Ehrlichkeit, Ehrgeiz und Ausdauer in der Figureninszenierung von Erin Brockovich zusammen. Ironischerweise wird am Ende gewissermaßen wahr, was Julia Roberts als Schönheitskönigin, die sie einst war, wie sie ihrem Freund erzählt, unzählige Male versprochen hat: Weltfrieden.

2.3. Miss Congeniality – „I really do want world peace!“

Für Weltfrieden sorgt auch Sandra Bullock alias Miss Congeniality in dem gleichnamigen, ebenfalls überaus erfolgreichen Film aus dem Jahr 2000. Um ein Mordkomplott aufzudecken, muss sie als FBI-Agentin Gracie Hart (schon im Namen äußert sich das dramaturgische Oxymoron des Films) unter dem Namen Gracie Lou Freebush zu einer Miss-Wahl antreten. Am Ende vereint auch sie – ähnlich wie Elle Woods die Studentinnen in Harvard und Erin Brockovich die Einwohnerinnen Hinkleys – alle Teilnehmerinnen und wird – trotzdem oder vielmehr, weil sie den Schönheitswettbewerb nicht gewinnt – als Königin gefeiert.

Wie Legally Blonde und Erin Brockovich fragt auch Miss Congeniality nach der Bedeutung und der Funktion der Kategorie ‚Frau‘. Während Legally Blonde Weiblichkeit als konstruiert hervorhebt und gleichzeitig als Möglichkeit zur Solidarisierung feiert und Erin Brockovich die Inkongruenz zwischen sozialem und biologischem Geschlecht reflektiert und die Bedeutung der Kategorie ‚Klasse‘ erfahrbar macht, gründet die Affektdramaturgie von Miss Congeniality in dem feministischen Topos der Maskerade und in der Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie. Die Mehrdeutigkeit von Geschlechterdifferenzen wird in Miss Congeniality wie in einem Lehrbuch inszeniert, weshalb sich die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Film bzw. Feminismus und Populärkultur auch hinsichtlich dieses Films aufdrängt. Handelt es sich um verfilmte Theorie? Geht es um theoretische Veranschaulichung? Was ist der Gegenstand des Films? Wie konstituiert sich die ästhetische Erfahrung?

2.3.1. Der kinematographische Sprechakt

Gleich mit der ersten Szene (0:0:40–0:02:06), die ich als Prolog begreife, führt Miss Congeniality den Topos der Maskerade ein, indem er ein Spannungsverhältnis zwischen ‚echter‘ und ‚maskierter‘ Geschlechtlichkeit mittels der Präsentation des Sprechakts inszeniert. In einem ähnlich didaktischen Modus wie die beschriebene Bewerbungsszene aus Legally Blonde führt Miss Congeniality John L. Austins Sprechakttheorie (vgl. Austin 1962), unter anderem in Judith Butlers Lesart, vor: Wir befinden uns auf einem Spielplatz im Jahre 1982 in New Jersey, erklären uns weiße Lettern, während spielende und schaukelnde Kinder den Handlungsraum füllen. Eine von rechts über den Platz gleitende Kamerabewegung, die in einem lesenden Mädchen mit blonden Zöpfen und schwarzer Hornbrille endet, stellt uns die Protagonistin des Films vor. Das Buch The Invisible Intruder, eine Geschichte über die Detektivin Nancy Drew, der populären US-amerikanischen Heldin aus einer Kinderbuchserie, verdeckt ihr Gesicht bis sie Zeugin wird, wie ein Junge von einem anderen inmitten einer Kinderschar gedemütigt wird.

Durch einen point of view shot beobachten wir das Geschehen aus der Perspektive des Mädchens, um kurz darauf eine Auseinandersetzung zwischen ihm und dem einprügelnden Jungen zu erleben. „Problem, gentlemen?“, fragt das Mädchen, sich lässig über die Stufe einer Leiter lehnend. „Hey dork-brain! If you weren’t a girl, I’d beat your face off“, antwortet der Junge. Das Mädchen nähert sich und erwidert mit verschränkten Armen: „If you weren’t a girl, I would beat your face off.“ Was in dem Bild des lesenden Mädchens kurz zuvor noch als intelligible, verständliche, das heißt ‚natürlich-neutrale‘, geschlechtsspezifische Identitätskategorie hätte verstanden werden können (obgleich das Buch und die auffällige Brille bereits auf eine komplexere Bedeutung hinweisen), fungiert nun als Beleidigung. Die Retorsion, die Umkehr der Bezeichnung girl durch das Mädchen sorgt für eine Irritation seitens der Zuschauerin und des Jungen, die sich als und in dessen Verärgerung ausdrückt: „You’re calling me a girl?“ „You called me one“, entgegnet das Mädchen, woraufhin der Junge zu einem Schlag ausholt, der allerdings ins Leere trifft. Dafür streckt das Mädchen den Jungen mit geübten Fäusten und Tritten unvermittelt nieder.

Erneut arbeitet der Film entgegen der Erwartung der Zuschauerin, als der zuvor gedemütigte Junge dem Mädchen statt Dank Missgunst entgegen bringt: „I don’t like you. Now, everybody thinks I need a girl to fight for me. You are a dork-brain!“. Was sich unter umgekehrten Geschlechtervorzeichen dramaturgisch normalerweise als Beginn einer Romanze oder Realisierung einer bis dahin aufgeschobenen Liebeserklärung darstellen würde, erscheint in diesem Moment als komisch und absurd. Hätte ein Junge ein Mädchen gerettet, implizieren die Bilder, wäre die Szene als symbolisch bedeutsamer Akt mit einem vereinigenden Kuss besiegelt worden. Wäre ein Junge dem Jungen beigesprungen, hätte sich eine immer währende Freundschaft entwickelt. Hilft ein Mädchen einem Jungen, so der Film, kann eine Beziehung sich erst gar nicht entwickeln.

Mit dieser Szene stellt Miss Congeniality die Logik der heterosexuellen Matrix aus und hebt die variable Bedeutung der Bezeichnung girl und ihre jeweiligen Konsequenzen hervor. Als Objekt eines sozialen Diskurses stellt girl sowohl eine diskriminierende als auch eine identitätsstiftende Kategorie dar. In der Szene fungiert sie als Schimpfwort, wenn es sich um eine Fremdbezeichnung handelt und als subjektive Identifikation, wenn es als Selbstbezeichnung gilt. „You’re smart and funny“, erklärt das Mädchen dem gedemütigten Jungen, „and girls like that.“ „What girls?“, fragt dieser. „Lots of girls“, entgegnet das Mädchen. „I mean… I like you.“ Die Selbstbezeichnung des Mädchens hat allerdings nicht die implizierten Konsequenzen. Anstatt dass der Junge ihr in die Arme fällt oder sie in seine fallen darf, bleibt sie für ihn ein „dork-brain“. Dennoch existiert sie aus seinen Augen weiterhin als girl („Now, everybody thinks I need a girl to fight for me.“). Seine Aussage referiert darauf, dass man sie dennoch, trotz ihres geschlechtsuntypischen Auftritts weiterhin als girl wahrnehmen und bezeichnen wird. „You are a dork-brain“, schlägt das Mädchen zurück – erst verbal und dann mit der Faust. „Wimp“, ruft sie ihm nach, als dieser den Schauplatz verlässt.

Rückblickend stellt sich heraus, dass der Junge tatsächlich ein Feigling ist und nicht nur Opfer eines stärkeren Jungen. In diesem Sinne holt das Mädchen den Faustschlag nach, den sie verhindert hat und dem sie noch kurz zuvor selbst ausgewichen ist, den er aber aus der Sicht des Mädchens und auch aus der der Zuschauerin aus Gründen (männlicher) Selbstbehauptungslogik und verletzten Stolzes letztendlich doch verdient hat. Denn anstatt sich romantisch oder kumpelhaft zu verbünden, muss das Mädchen als gescheiterter Junge bzw. als unintelligibles Mädchen alleine zurückbleiben. Die Glocke schrillt und alle Kinder bis auf das Mädchen verlassen den Spielplatz, das Bild leert sich.

Bezüglich Austins Sprechakttheorie zu performativen Äußerungen stellt sich die Anfangsszene als Lehrstück zur Darstellung und Inszenierung perlokutionärer Effekte bzw. missglückter Sprechakte dar. Austin unterscheidet zwischen konstativen Äußerungen (Aussagen, die wahr oder falsch sein können) und performativen Äußerungen (Aussagen, die Handlungen gleichen und wirkmächtig sind). Performative Äußerungen unterteilt er wiederum in perlokutionäre Sprechakte (Äußerungen, die sich als Konsequenzen vollziehen, wie z.B. Beleidigungen) und illokutionäre Sprechakte (Äußerungen, die gleich Handlungen unmittelbar Wirkung entfalten, wo Sagen und Tun zusammenfallen, wie z.B. bei Richtersprüchen – „Sie sind schuldig.“ – oder Eheschließungen – „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“). Austin macht eine weitere Differenzierung und unterscheidet zwischen einem perlokutionären Akt und einem perlokutionären Effekt, wobei letzterer die Wirkung der Äußerung bezeichnet. Entsprechend kann sich die durch den perlokutionären Akt implizierte Intention der Sprecherin von dem Effekt der Äußerung unterscheiden.

Im Fall des Prologs von Miss Congeniality gründet der für Irritation sorgende screwball-komödiantische Schlagabtausch im Auseinanderfallen von Akt und Effekt. Die Aussage, dass der Junge das Mädchen nicht schlagen will, da sie eben ein Mädchen ist, fungiert hinsichtlich des Mädchens zunächst unabsichtlich als Beleidigung, und dann, in Bezug auf den prügelnden Jungen, als intendierte Diffamierung. Ebenso die als Liebeserklärung an den geretteten Jungen gemeinte Äußerung des Mädchens, dass sie, als Mädchen, ihn mag, führt zu dessen Abweisung, da sie ihn damit aus seiner Sicht in seiner Männlichkeit hinterfragt.

Diese dramaturgische Verbindung missglückter Kommunikationsmomente stellt heraus, dass der jeweilige Kontext über Konsequenzen und Bedeutungen von Äußerungen und über das Gelingen von Sprechakten entscheidet. Darüber hinaus reflektiert die Szene die Implikationen einer heterosexuellen Matrix, deren Geschlechtskonzept an dem Begehren eines oppositionellen Geschlechts und an der Reproduktion ausgerichtet ist. Nach Butler macht die heterosexuelle Matrix die Konstruktion von binärer Geschlechtlichkeit unsichtbar, indem sie diese als natürlich ausstellt. Unausgesprochen werde vorausgesetzt, dass sich die (geschlechtliche) Identität durch eine dichotome Begehrensstruktur konstituiert. Indem man als Weibchen (als weiblich definierbares biologisches Geschlecht) Männer begehre, werde man, der heterosexuellen Matrix zufolge, zur (sozialen) Frau; und indem man als Männchen Frauen begehre, konstituiere sich die (soziale) Identität des Mannes. (vgl. Butler 1991, 22ff.)

Rückblickend stellt sich der Prolog von Miss Congeniality als Inszenierung einer These dar, die es im Laufe des Films zu belegen gilt. In der Dauer der Rezeption wird es immer deutlicher, weshalb es einer Neujustierung geschlechtsspezifischer Subjektkonzepte bedarf. Durch die insistierende Wiederholung von Irritationsmomenten macht der Film eine Verschiebung von Normen und somit eine Umdeutung von vorherrschenden Geschlechtsvorstellungen als möglich erfahrbar.

Äußerungen müssen einer Norm entsprechen, um ihren intendierten Effekt entfalten zu können; sie werden nur dann wirkmächtig, wenn sie sich an ein zuvor etabliertes Regelwerk halten. Andererseits etablieren sie eben dieses, indem sie wiederholt vollzogen werden und performativ Gegebenheiten schaffen. Für Judith Butler bedeutet Performanz vor allem, dass durch eine ständige Wiederholung von Normen Letztere überhaupt erst geschaffen werden. Das heißt, wenn bei der Geburt eines Säuglings gesagt wird „Es ist ein Mädchen“, wird dem Kind ein Geschlecht zugeordnet, das es zuvor noch nicht hatte; der Satz fungiert als Imperativ und könnte gleichermaßen lauten „Sei ein Mädchen“ bzw. „Werde ein Mädchen“. Durch die anschließende ständige Wiederholung „Es ist ein Mädchen“ verfestigt sich diese Zuordnung. Dadurch erscheint Geschlechtlichkeit als natürlich gegeben, obgleich sie eigentlich ein Effekt der diskursiven Ordnung, einer Zuschreibungspraxis ist und demnach kulturell bedingt. Im Anschluss an Austin geht Butler ebenso davon aus, dass Worte wie Handlungen wirkmächtig sind. Worte dienten nicht der Beschreibung von Realität, sondern schafften diese erst. Hannelore Bublitz erklärt in ihrer Einführung zu Butler:

Bezeichnen und vollziehen fallen zusammen. Performative Sprechakte erzeugen demnach das, was sie bezeichnen. Sprache hat hier also wirklichkeitserzeugenden Charakter. Das gesprochene Wort nimmt den Status einer sozialen Tatsache an. (Bublitz 2002, 23)

Voraussetzung der realitätsschaffenden Funktion diskursiver Performanz ist allerdings, dass diese sich auf bereits bestehende sprachliche Konventionen, Worte oder Bezeichnungen beziehen. Die Wiederholung ist also zitatförmig. Da Wiederholungen jedoch nie hundertprozentig identisch mit dem Wiederholten sind, sieht Butler in der Wiederholung ein subversives Moment möglicher Veränderung und Verschiebung von Bedeutung. Obgleich die performativen Akte stets einer diskursiven Macht unterliegen, also weder willkürlich noch rein intentional sind, fügten sich Wiederholungen nie völlig den Normen. Denn Normen seien historisch, prozesshaft und uneindeutig. Deshalb verfüge das durch die performative Kraft der Sprache hervorgebrachte Subjekt gleichzeitig über die Möglichkeit der Zurückweisung normativer Zuschreibungen und Verletzungen – wie wir durch den Prolog erfahren haben.

Zum einen lässt sich im Anschluss an Butler und Austin feststellen, dass Sprechakte losgelöst von einzelnen Aktanten stattfinden, das heißt nicht ausgehend von Einzelnen außerhalb eines sozialen und kulturellen Sprachkontextes realisiert werden können, bzw. wie Jonathan Culler schreibt:

[…] the performative breaks the link between meaning and the intention of the speaker, for what act I perform with my words is not determined by my intention but by my social and linguistic conventions. (Culler 2007, 149)

Zum anderen liegt in der Handlungsmacht von Individuen eine Möglichkeit zur Umdeutung.

Auch wenn Austin literarische Sprechakte aus seinen Überlegungen ausschließt, da er sich auf konkrete soziale Kontexte und Funktionen beschränkt (vgl. ebd., 148), lässt sich eine Analogie zwischen Alltagskommunikation und fiktionalen Sprachformen ziehen. Denn wenn es weniger auf die Intention Einzelner ankommt, sondern auf vorherrschende Konventionen, dann ist auch für die Alltagskommunikation feststellbar: „‚The performative utterance automatically fictionalizes its utterer when it makes him the mouthpiece for a conventional authority.‘“ (Barbara Johnson zit. nach Culler, ebd., 59) Handelt es sich also im Grunde immer um einen Akt der Fiktionalisierung, so liegt es nahe zu fragen, auf welche Art und Weise dezidiert fiktionale Formen wie Literatur oder Film als performative Sprechakte begriffen werden können.

Auf die Inszenierung audiovisueller Sprechakte als spezifische ästhetische Ausdrucksform werde ich in Kapitel 3 zu Gossip als kinematographischen Modus weiter eingehen. Mit Blick auf Miss Congeniality argumentiere ich, dass der Film die theoretische Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen inszeniert. Die erste Szene liest sich wie eine Position der Queer-Theorie, da die Bedeutung von girl als variabel ausgestellt wird (als diskriminierende Differenzierung, intendierte Beleidigung und subjektive Identitätskategorie) und damit die Bezeichnung ‚weiblich‘ als vielschichtig ausgestellt wird. Im Grunde wohnen wir einer Schlägerei bei, wie sie sich auf unzähligen Spielplätzen und Pausenhöfen – und in Filmen – ereignet, doch durch die ausgestellte Inkongruenz zwischen sozialem und biologischem Geschlecht evoziert der Film Irritationsmomente, welche die Mehrdeutigkeit von Geschlechterdifferenzen veranschaulicht. Durch die missglückten Sprechakte wird die Einheit von sex und gender als fragwürdig inszeniert. Zum einen fällt das Kind aus seiner Rolle, indem es nicht seinem Äußeren entsprechend als Mädchen agiert; zum anderen ist es trotz seines ‚männlichen‘ Auftretens so sehr mit ‚Weiblichkeit‘ verbunden, dass es für beide Jungen als girl identifizierbar ist (d.h. ob der Junge aus seinen Augen ein Mädchen schlägt oder eben doch einen Jungen, ist nicht zu entscheiden). Wenngleich auch für die Zuschauerin das Bild des girl weiter existiert, gerät die Eindeutigkeit dichotomer Geschlechterdifferenzierungen ins Wanken. Ob es sich um ein Mädchen handelt, das sich wie ein Junge verhält oder um einen Jungen, der wie ein Mädchen aussieht, wird als für den Topos der Maskerade grundlegende Frage durch den Prolog eingeführt. Während die Kinderfigur aufgrund der Zöpfe, des Buches und der Fremd- und Selbstbezeichnung die erste Lesart nahelegt, verunmöglicht die, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, darauffolgende Variante der erwachsenen Gracie Hart eine abschließende Entscheidung.

2.3.2. Weiblichkeit als Maskerade

Simone de Beauvoir erklärt, dass die Frau immer in Relation zum Mann beschrieben werde und daher nicht ohne ihn bestehe. Folglich bedeute „Mensch“ im existentiellen Sinn erstmal nur Mann. Da die Frau aus dem männlichen Blickwinkel definiert werde, sei sie im Gegensatz zum Mann ‚die Andere‘. Diese Position werde von der Frau zeitübergreifend eingenommen und bewirke, dass sie nur in der Beziehung zum männlichen Subjekt existieren kann. De Beauvoir schreibt:

Sie wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie, sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute; sie ist das Andere. (de Beauvoir 2008 [1951], 12)

Hinsichtlich der feministischen Kritik, dass Frauen im Unterschied zu Männern als ‚Nicht-Männer‘ definiert werden, indem sie als das ‚Andere‘ in Bezug auf das ‚Normale‘, Maßgebende verstanden werden, kann man die Anfangsszene in Miss Congeniality dahingehend erläutern, dass sie diese Logik in ihr Gegenteil verkehrt und damit einen ‚weiblichen‘ Blickwinkel inszeniert. Die sich raufenden Jungen werden in Abgrenzung zu dem Mädchen inszeniert, um in ihrer Identität intelligibel zu bleiben. Die Kategorie girl fungiert hier als maßgebender Bezugspunkt.

Mit dem letzten Bild der ersten Szene blendet der Film über zu Gracie Hart als FBI-Agentin, wie sie einen illegalen Handel in einem Lokal überwacht. 1982 wurde noch versucht, so könnte man die Anfangsszene mit feministischer Brille lesen, aus Mädchen Jungs zu machen; Gleichberechtigung wurde u.a. in der Aneignung männlicher Qualitäten durch Frauen gesehen. Hingegen geht es nun, in der narrativen Gegenwart des Films, darum, die Vorstellung von Geschlechterdifferenzen als dichotom und als stabile Identitätskategorien abzuweisen.

Nach innerdiegetischer Zeitrechnung wiederholt sich zwanzig Jahre später die Szenerie (0:2:17–0:07:18). Dieses Mal ist der Schauplatz eine russische Kneipe, in der eine Gangsterbande von der Protagonistin überwacht werden soll. Wieder befindet sie sich am äußeren Rand des Handlungsraums und verfolgt hinter einer als Buch russischer Grammatik getarnten Kamera das Geschehen. Schummriges Licht, fremd klingende Sprache und bedeutungsschwangere Musik inszenieren ein Milieu wie in einem Agententhriller. Draußen im Regen haben ihre Kollegen in Überwachungswagen und getarnt als Bettler, verbunden über Funk, das Lokal umstellt und warten auf den entscheidenden Moment einer Übergabe, um die Gangster zu überführen.

Durch die gleiche Anordnung und Dramaturgie wie zu Beginn des Films (die lesende, eigentlich beobachtende, abseits sitzende Frau, die sich im Zentrum des Bildes versammelnden und dann prügelnden Männer) erscheint die Szene als Wiederholung mit leichter Varianz. Was vorher noch im Gewand eines Kinderfilms passierte, geschieht nun auf der Bühne eines Agentenfilms. Vor dem Hintergrund der zuvor beobachteten Rangelei auf dem Spielplatz stellt sich der Einsatz der FBI-Agenten ebenfalls als Machtkampf konkurrierender Jungs dar. Als das entscheidende Beweisstück ins Visier der Truppe rückt, schreitet diese ein und umstellt die Kriminellen. Alles verläuft nach Plan. Doch dann kommt es zu einem Zwischenfall, während dessen sich einer der Bande verschluckt. Bevor es zum Ersticken kommt, fasst Gracie Hart den Entschluss, abermals – ihrer ‚weiblichen‘ Empathie oder ihres ‚männlichen‘ Gerechtigkeitssinns folgend – den ‚Schwächeren‘ zu retten und befreit den Gangster von der lebensbedrohlichen Nuss im Rachen. Daraufhin wendet sich das Blatt, sie wird von den Kriminellen als Geisel genommen und es kommt zu einem Schusswechsel. Zwar kann sich Gracie Hart wieder befreien, doch während die Jungs auf dem Spielplatz mit Faustschlägen davongekommen sind, stirbt bei dem Einsatz ein Kollege. Aus diesem Grund muss Gracie Hart von nun an hinter den Schreibtisch.

Durch diese Sequenz ist der Prolog hinsichtlich performativer Identität nochmals aus anderer Perspektive interessant. Denn rückblickend lässt sich die Rolle der zwanzig Jahre später als FBI-Agentin tätigen Frau nun als logische bzw. ‚natürliche‘ Konsequenz verstehen: Bereits als Kind, so kann man nun schließen, agierte Gracie Hart wie eine Agentin („Sie ist die geborene Detektivin.“). Sie hat ihre ‚gegebenen‘ Qualitäten zum Beruf gemacht. Damit wird gewissermaßen die ambivalente Geschlechtsidentität der Protagonistin als ‚natürlich‘ ausgewiesen und fortgeführt. Weiterhin ist nicht entscheidbar, was das soziale (gender) und was das ‚ursprüngliche‘ Geschlecht (sex) ist, was die Ausformungen eines anatomischen Geschlechts darstellen oder was diesem zuwiderlaufen kann, was Schein ist und was Sein. So zeigt auch Miss Congeniality (auf ähnliche, wenngleich viel explizitere Weise als Erin Brockovich), dass sichtbare Eigenschaften wie etwa die langen, blonden Zöpfe des Mädchens (gender), nicht wirklich Aufschluss geben über die (geschlechtliche) Identität der Filmfigur, dass also von geschlechtsspezifischen Handlungen nicht auf ein geschlechtlich kohärentes Subjekt geschlossen werden kann – und auch nicht soll, dass also vielmehr geschlechtsspezifische Zuschreibungen grundsätzlich infrage zu stellen sind. Fortwährend lässt der Film Indizien als unzuverlässig erscheinen. So wenig die russische Grammatik eine verlässliche Referenz auf die Sprachkenntnisse der Agentin darstellt, so uneindeutig entpuppt sich das Verhältnis zwischen Nancy Drew und dem zuvor gesehenen Kind. Diente das Buch The Invisible Intruder als Attrappe, Requisit, Accessoire oder Maske?

Der Begriff der Maskerade finde vielseitige Verwendung in der Diskussion um Fragen von Identität, sex und Vergeschlechtlichung, erklärt Liliane Weissberg. Er sei vor allem als offenes Konzept unterschiedlicher, psychoanalytischer, literaturwissenschaftlicher und filmtheoretischer Ansätze und Fragen zu verstehen. So werde die weibliche Maskerade etwa von Jacques Lacan als Resultat des Begehrens beschrieben, von Joan Rivière als Instrument von Frauen, um ihre (männliche) Machtposition zu verschleiern und von Judith Butler als potentielle Umdeutung und Verschiebung von geschlechtlich bestimmten Identitäten (vgl. Weissberg 1994).

Miss Congeniality inszeniert ein fortwährendes Maskenspiel, bei dem sich verschiedene Rollenbilder von Weiblichkeit durchdringen, ohne auf ein ‚authentisches Selbst‘ zu verweisen und hinterfragt damit die Vorstellung einer originären Identität. Damit folgt er einer Logik von Subversion wie sie Butler vor Augen hat. Geschlechterdifferenzen werden auf eine Art und Weise inszeniert, die unentscheidbar macht, ob es sich bei Gracie Hart um eine Frau mit Männermaske handelt oder um einen Mann, der wie eine Frau aussieht. Das biologische und das soziale Geschlecht klaffen in dem Film nicht nur auseinander, sondern verlieren gänzlich ihre Aussagekraft. Denn, wie Butler schreibt:

Wenn die Anatomie des Darstellers immer schon von seiner Geschlechtsidentität unterschieden ist, und diese beiden sich wiederum von der Geschlechtsidentität der Darstellung (performance) unterscheiden, dann verweist die Darstellung nicht nur auf eine Unstimmigkeit zwischen Geschlecht (sex) und Darstellung, sondern auch auf eine Unstimmigkeit zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität (Gender) und zwischen Geschlechtsidentität und Darstellung. (Butler 1991, 202)

In diesem Sinne, in dem Auseinanderfallen von sex, gender und Darstellung, realisiert sich mit Miss Congeniality eine emanzipatorische Erfahrungsmodalität, die weniger in einer Mehrdeutigkeit von Geschlechtskategorien gründet, denn in einer Affektdramaturgie, die durch parodistische Überzeichnung eine Idee von Geschlecht als Maskerade hervorbringt.

Der Topos der Maskerade erfährt durch Miss Congeniality eine doppelbödige Bedeutung. Im Sinne Joan Rivières inszeniert der Film die These, dass es keinen Unterschied zwischen ‚echter‘ und ‚maskierter‘ Weiblichkeit gibt. In ihrem berühmten Aufsatz „Womanliness as Masquerade“ stellt Joan Rivière fest, dass Weiblichkeit im Grunde immer schon Maskerade bedeutet:

Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenze zwischen echter Weiblichkeit und der ‚Maskerade‘ ziehe. lch behaupte gar nicht, daß es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe. (Rivière (1994 [1929], 38f.)

Diese Feststellung impliziert allerdings zweierlei Deutungen, wie Weissberg erklärt:

Das Konzept der Weiblichkeit als Maskerade könnte strikt essentialistischen Theorien widersprechend eine geschlechtliche Identität als konstruierte postulieren. Umgekehrt könnte der Begriff auch so konzipiert sein, daß er eine sexuelle Identität voraussetzt, die maskiert werden kann. (Weissberg 1994, 11)

Diese Ambivalenz reflektiert auch Miss Congeniality. Die Inszenierung richtet sich – wie Legally Blonde – einerseits gegen essentialistische Denkweisen, indem er auf die Ursprungslosigkeit von gender verweist. Andererseits dient bis zuletzt die Kategorie ‚Frau‘ als grundsätzlicher Bezugspunkt zur Identifizierung der Hauptfigur. Obgleich sich die Schönheitsprozedur am Ende gewissermaßen als Erfolg erweist und offensichtlich eine ‚Frau par excellence‘ über die Bühne schreitet, sex und gender sich (scheinbar wieder) zu einem einheitlichen Ganzen fügen, das als weibliche Frau identifizierbar ist, bleibt die Vorstellung einer kohärenten Identität unhaltbar.

Eben dieses Spannungsfeld zwischen ‚Maskerade‘ und etwas sich vermutlich ‚dahinter‘ Verbergendem konstituiert die Hauptfigur als Leinwand-Typus. Das irritierende Moment gründet weniger in der Inkongruenz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht wie in Erin Brockovich, denn vor allem in dem Insistieren von maskenhafter Weiblichkeit. Dadurch entsteht fortwährend der Eindruck, die Protagonistin würde aus dem Rahmen fallen. Miss Congenialityzeichnet sich durch auffällig grobes Verhalten, ungepflegtes Äußeres, miserable Tischmanieren und meisterhaftes Kickboxen aus. Da sie in dieser Hinsicht als ‚typisch männlich‘ gelten kann, irritiert es, wenn sie die in der Regel Frauen zugewiesenen Aufgaben einer Assistentin erfüllen und ihren ausschließlich männlichen Kollegen den morgendlichen Kaffee aus dem Coffee Shop mitbringen muss. Gleichzeitig erscheint es als selbstverständlich, da Gracie Hart gleich zu Beginn als girl eingeführt wurde. Dieser Konflikt kommt zum Ausdruck, wenn sie sich mit ihrer Dienstmarke als FBI-Agentin ausweist, um sich an die Spitze der Warteschlange einreihen zu können – als wäre ihre Profession bloß Fassade. Die Maske wird zum Wesensmerkmal der Figur und damit zum strukturierenden Element der Affektdramaturgie.

Das Verhältnis von Schein und Sein inszeniert Miss Congeniality als ironisches Rollenspiel, das geschlechtsspezifische Identitäten als variabel ausstellt. Indem der Film das, was als unterschiedliche ‚Ausprägungen‘ von Weiblichkeit verstanden werden könnte, als äußerst temporär und instabil ausstellt, verweist er auf die Vieldeutigkeit und die Konstruiertheit der Geschlechterdifferenz. Einerseits inszeniert er Weiblichkeit als Bezugspunkt gänzlich verschiedener Rollenbilder, die Gemeinplätze eines popkulturellen Gedächtnisses darstellen (von der ‚FBI-Agentin‘ über das ‚bayrische Mädel‘ und ‚Pippi Langstrumpf‘ bis hin zur ‚Schönheitskönigin‘). Andererseits erschüttert er diese, kaum dass er sie evoziert hat. Indem Sandra Bullock den verschiedenen Frauenrollen weiblich a-typische, d.h. als männlich definierbare Züge verleiht, rückt die den Leinwand-Typus kennzeichnende individualisierte Verkörperung sozialer Rollen in den Vordergrund, sodass sich zuletzt die Frage stellt, was weiblich überhaupt noch meinen kann.

Die FBI-Agentin trägt Züge eines halbstarken Mädchens, etwa bei der Überführung russischer Mafiosi im Lokal, wenn sie mittels Loch im Buch die illegalen Machenschaften überwacht, um im entscheidenden Moment den Mafiosi-Boss vor dem Ersticken zu retten; das in der Miss-Wahl auftretende bayrische Mädel wird zur FBI-Agentin, wenn sie sich, die Pistole schussbereit, während ihres Glockenspiels auf den vermeintlichen Mörder stürzt; und die Schönheitskönigin entpuppt sich letztendlich als FBI-Agentin, wenn sie die Galashow stürmt. Durch den ständigen Wechsel der Rollen, die ineinander greifen und sich durchdringen, wirft der Film die Frage nach dem Original auf. Wer verkleidet sich eigentlich als was? Was ist Schein und was ist Sein? Was ist wessen Maskerade?

2.3.3. Die Parodie des Originals

Aus queer-theoretischer Sicht stellt Miss Congeniality eine Parodie von Geschlechtszuschreibungen dar, um variable und offene Identitätskonzepte vorstellbar zu machen. Allerdings geht es dabei weniger darum, Geschlechtsidentitäten zu parodieren, sondern um „die Parodie des Begriffs des Originals als solchem“ (Butler 1991, 203). Der Film zeigt nicht nur, dass der weibliche Körper keinerlei Rückschlüsse auf das (soziale) Geschlecht zulässt, sondern zudem, ähnlich wie Legally Blonde, dass dieser selbst ein Konstrukt einer bestimmten Repräsentationslogik ist. Während Legally Blonde Weiblichkeit gewissermaßen als konstruierte Essenz (die nichtsdestoweniger auf eine Ursprungslosigkeit verweist) inszeniert, zielt Miss Congeniality darauf ab, geschlechtliche Identität als maskeradenhaft darzustellen. Dabei dekonstruiert der Film vor allem visuelle Normierungen, welche die Idee eindeutig identifizierbarer und originärer Subjekte hervorbringen.

Butler weist darauf hin, das die Travestie von feministischen Theorien in der Regel als „unkritische Aneignung von sterotypen Geschlechterrollen verstanden [wird], die aus dem Repertoire der Heterosexualität stammen.“ Ihrer Ansicht nach ist „die Beziehung zwischen ‚Imitation‘ und ‚Original‘ jedoch weitaus vielschichtiger, als die Kritik im allgemeinen erlaubt.“ (Ebd., 202) Die Parodie an sich muss nicht zwangsläufig subversiv sein und Performanzen müssen nicht immer zu einer Verschiebung von Bedeutungen führen. Es hängt immer vom jeweiligen Kontext und der Rezeption ab (ebd., 204). Miss Congeniality lässt sich meiner Meinung nach als Parodie verstehen, da der Film das ‚Frau-Werden‘ als Maskerade der Weiblichkeit erfahrbar macht.[41] Dabei verweist er nicht nur auf die Varianz von Geschlecht, sondern hinterfragt die Kategorien sex und gender als verlässlichen Bedeutungsgenerator und stellt die heterosexuelle Matrix als Maske aus.

Die Prozedur, durch welche die (zu) ‚männlich‘ bzw. nicht ‚weiblich‘ erscheinende Protagonistin zur Frau ‚gemacht‘ werden muss, impliziert die durch Weissberg hervorgehobene Doppelbödigkeit des Konzepts der Weiblichkeit als Maskerade. Denn es ist nicht entscheidbar, ob einer vorgängigen Weiblichkeit lediglich zum Ausdruck verholfen werden muss oder ob der Film essentialistischen Theorien widerspricht und eine geschlechtliche Identität als konstruiert postuliert. Handelt es sich um das Abtragen einer männlichen Maskerade, wodurch eine bereits existierende sexuelle Identität gewissermaßen wieder freigelegt wird und gar nicht so sehr um das Anlegen einer weiblichen Maskerade?

Miss Congeniality inszeniert das ‚Frau-Werden‘ als eine beruflich erforderliche Transformation zur Schönheitsprinzessin, die sich zudem als höchst aufwendige Prozedur gestaltet, für die ein Heer an Arbeitskräften zum Einsatz kommt. Was normalerweise als natürlich erscheint, stellt sich durch die von Gracie Hart einzunehmende Rolle der Miss New Jersey als äußerst mühsame Konstruktionstechnik dar. Damit Miss Congenialityein gutes Bild gibt, muss sowohl das biologische als auch das soziale Geschlecht zunächst hergestellt bzw. freigelegt werden. Ihre Haare werden gerichtet und stellenweise entfernt, das Gesicht mit Schminke bedeckt, sie bekommt Brüste und muss sich all ihrer phallischen Schusswaffen entledigen. Gewissermaßen wird sie symbolisch vor unseren Augen kastriert, obgleich sie niemals gänzlich Mann war; sie muss gleitend und lächelnd, und im Grunde stumm, durch die Menge schreiten.

Dies alles wird als Tortur inszeniert, als geschähe die gesamte Umwandlung unter großen Schmerzen. Wie Operationen, gar Folter stellen sich die Körperein- und Zugriffe dar, wenn die Zähne gebleicht und die Beine samt ‚Bikinizone‘ gewachst werden. Zugleich zieht der Film eine distanzierend-selbstreflexive Ebene ein, die ähnlich wie der Prolog auf den theoretischen Diskurs um Subjektkonzeptionen verweist. Als entfremdete Gesten werden die Bewegungen der Bewerberin erfahrbar, wenn Sandra Bullock ihr erstes ‚Gleiten‘ auf offener Straße wagt, so ausladend sind ihre Schritte, so deutlich gespielt wirkt die neue Rolle. Als ein irrsinniges Spektakel entfaltet der Film die gesamte Transformation, die im Grunde keine sein kann, da es nichts Vorgängiges, zu Transformierendes gibt.

Am Ende fügt sich das Bild Gracie Harts einerseits zu einer homogenen Identität und andererseits evoziert es weiterhin Widersprüche. Wenn Sandra Bullock ihre ‚männlichen‘ Manieren ablegt und von nun an Stöckelschuhe trägt, wird die Geschlechtsidentität trotz der als eindeutig definierbaren Geschlechtsmerkmale nicht als kohärent erfahrbar. Denn nun kommt einem genau diese als konstruiert und als äußerst uneindeutig vor: zum einen, weil wir in der Dauer des Films erfahren haben, wie artifiziell und aufwendig die Prozedur ist, um eine eindeutige weibliche Geschlechtsidentität herzustellen, zum anderen, weil Sandra Bullock alias Gracie Hart bis zuletzt über ihre hohen Absätze stolpert und wiehert wie ein froher Gaul. Die als unpassend empfundenen, ‚männlich‘ definierbaren Züge treten nach wie vor hervor.

Bis zum Ende ist nicht entscheidbar, ob Gracie Hart ‚tatsächlich‘ zu einer ‚Frau‘ geworden ist, wenn sie mitten unter den jubelnden Bewerberinnen spricht, oder ob sich ‚im Grunde‘ nichts verändert hat. Wenn sie die Abschlussrede vor versammelter Fangemeinde hält und sich Weltfrieden wünscht („I really do want world peace!“), lässt sich nicht mehr sagen, ob sie gerade eine Rolle spielt oder ob sie einen Wandel erfahren hat und nun aus ‚innerer‘, immer schon dagewesener Überzeugung spricht. Was wir zuvor während der Miss-Wahl noch als Worthülse namenloser Frauen wahrnehmen, die als Repräsentantinnen der US-amerikanischen Staaten eine nach der anderen für Weltfrieden plädieren, füllt sich am Ende mit Bedeutung, als Gracie Hart in der Rolle der enttarnten FBI-Agentin als Wettbewerbsteilnehmerin Gracie Lou Freebush gesteht, dass sie sich tatsächlich nichts sehnlicher wünsche. Allerdings ist nicht zu entscheiden, wer da am Rednerinnenpult steht bzw. in welcher Funktion Sandra Bullock dort spricht. Ist es ein/e FBI-Agent/in in der Rolle der Schönheitskandidatin oder eine Schönheitskandidatin als FBI-Agent/in? Spricht ein/e FBI-Agent/in, der/die wie eine Frau aussieht, oder eine Frau, die als FBI-Agent/in arbeitet? Und: Muss eine FBI-Agentin notwendigerweise männlich sein? Welche Rolle spielt hier noch das Geschlecht?

Genau diese Unentscheidbarkeit wird schließlich als stimmige Figurenkonzeption erfahrbar. Die Widersprüchlichkeit stellt sich letztendlich nicht nur als unüberwindbar aus, sondern als anzustrebendes Identitätsverständnis. Miss Congeniality wird von den Schönheitskandidatinnen nicht als Heldin gefeiert, da sie wider Erwarten dann doch die Krone davonträgt, sondern weil sie die Gewinnerin des Wettbewerbs davor bewahrt, diese aufzusetzen. Mit einem Riesenknall geht das Siegessymbol in Flammen auf und markiert das Ende der Miss-Wahl. Dieses Ende verkündet, so kann man den Film interpretieren, den Anfang einer neuen Epoche, einen Sieg über frauenfeindliche Kulturpraxen, die allein Schönheit als weiblichen Wert gelten lassen. Zum einen nimmt Miss Congeniality eine Umdeutung der Miss-Wahl vor und realisiert, was die Direktorin zuvor scheinheilig erklärt hat: dass es sich nämlich vor allem um ein Stipendiatinnenprogramm, d.h. um Intelligenz und weniger um einen Schönheitswettbewerb handelt. Zum anderen formuliert er die Frage, was Weiblichkeit (dann eigentlich noch) ist.

Interessanterweise bietet der Film keinerlei Bilder, die sich einem Blickprinzip unterstellen, nach dem die Frau als Objekt durch einen männlichen Blick konstituiert wird, wie es das Sujet des Films vielleicht vermuten ließe. So liefert die Bikinishow weder Nahaufnahmen weiblicher Körper, noch gleitende Kamerafahrten entlang der stolzierenden Teilnehmerinnen. Das Schaulaufen wird entweder aus einer Totalen aufgenommen oder Gesichter füllen das Bild. Obwohl sich der Film um eine Miss-Wahl dreht, bleiben voyeuristische oder fetischistische Zuschauer(innen)positionen außen vor. Das große Finale wird nicht als ornamenthafter Auftritt im Stil der Tiller Girls[42] in den Blick gerückt; stattdessen fängt die Kamera die einzelnen Teilnehmerinnen in Nahaufnahmen ein. Der Bildraum konstituiert sich über verschiedene Perspektiven, die in ihrer Gesamtheit eine kollektive Ausdrucksfiguration bilden. Die Wettbewerbsszenen entziehen sich der, von der feministischen Filmtheorie so vehement kritisierten, Schaulust. Allerdings geht es eben nicht darum, einen ‚männlichen Blick‘ zu verhindern, sondern darum, sich einer Logik zu verwehren, welche Frauen grundsätzlich als Referenzobjekt definiert. Die Schaulust von Miss Congeniality gründet vielmehr in dem spektakulären Maskenspiel, das sich als performativer Modus des Ausstellens realisiert. Mit dem Fortgang des Films rückt das Publikum in den Vordergrund, das Klatschen und das Jubeln der Menge, begeisterte Gesichter.

Ebenso wenig wie in Legally Blonde und Erin Brockovich ändert sich die Hauptfigur in Miss Congeniality im Laufe des Films, und genauso wenig handelt es sich bei ihr um einen Charakter, sondern in erster Linie um ein erfahrbares theoretisches Konstrukt. Das Spannungsverhältnis zwischen Maskerade und Essenz, ‚Natürlichkeit‘ und ‚Widernatürlichkeit‘ findet sich in der Inszenierung der Protagonistin. Sieht man in der Protagonistin den feministischen Topos der ‚Weiblichkeit als Maskerade‘ verkörpert, lässt sich argumentieren, dass der Film über den Erfolg der Agentin ein Subjektkonzept bejaht, das sich durch Variabilität und Temporalität auszeichnesiet. Auch sie überzeugt im Laufe des Films sowohl das innnerdiegetische Publikum als auch die Zuschauerin von ‚ihren‘ Prinzipien. Mit dem Sieg der Agentin verändert sich die Haltung der Zuschauerin, d.h. das Happy End gründet in eben diesem Einstellungswechsel. Was zunächst als widernatürlich erscheint, wird zunehmend als selbstverständliche Mehrdeutigkeit erfahrbar.

Der Topos der Maskerade realisiert sich als Gegenstand des Films, anhand dessen sich der Modus des „Undoing Gender“ entfaltet. Dieser wiederum konstituiert eine emanzipatorische Erfahrungsmodalität, die ein Zuschauerinnengefühl des empowerment hervorbringt. Der kinematographische Modus des „Undoing Gender“ ist also nicht mit der Erfahrungsmodalität des Films gleichzusetzen. Letzterer zeichnet sich nicht als erfahrbare Theorie der Maskerade aus. Das Gefühl des empowerment gründet nicht bloß in der Dekonstruktion von Geschlechterdifferenzen, sondern in jener Affektdramaturgie, welche die Protagonistin zur Siegerin auch in den Augen der Zuschauerin macht. Das Emanzipatorische, das die Erfahrung des gegenwärtigen Woman’s Film ausmacht, ist somit nicht nur, dass die Filme gängige Vorstellungen hinterfragen und in ihrer Mehrdeutigkeit ausstellen, sondern auch, dass sie aus dekonstruierten Repräsentationslogiken gespeiste Figuren inszenieren, die zu Repräsentantinnen eines Kollektivs werden.

2.4. Die emanzipatorische Erfahrungsmodalität

Durch die beschriebenen Leinwand-Typen in Legally Blonde, Erin Brockovich und Miss Congeniality entfaltet sich eine Ausdrucksfiguration, welche in der Dauer der Rezeption einen Einstellungswechsel der Zuschauerin gegenüber den Protagonistinnen herbeiführt. Im Laufe der Filme gewinnen diese das innerdiegetische wie das außerfilmische Publikum für sich, indem sie fortwährend auf eine aufrechtzuerhaltende Widersprüchlichkeit insistieren. Die Aufstiegsgeschichten der Frauen werden deshalb als empowerment erfahren, weil die Affektdramaturgien eine Erfahrung von Kollektivität konstituieren.

Die zunächst abstrakt, ungreifbar und unangreifbar erscheinenden Institutionen und Gegenspieler, werden zunehmend konkret und durch die Herausbildung der Protagonistinnen von eben diesen vereinnahmt. Elle Woods wird zur Jahrgangssprecherin in Harvard und hält die Abschlussrede vor allen Absolventinnen und Professorinnen; Erin Brockovich wird zum Sprachrohr der Bewohnerinnen Hinkleys und sitzt am Ende in der Chefetage der Anwaltskanzlei; und Gracie Hart versammelt alle Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbs mit einem Plädoyer für Weltfrieden. Die Hauptfiguren werden zu Repräsentantinnen eines Kollektivs, das sich durch diese erst konstituiert. Der individuelle Erfolg der Protagonistin transformiert sich zu einem gesamtheitlichen Sieg. Somit wird die in den Protagonistinnen angelegte Theorie, dass ‚Frau‘ immer nur als Repräsentation repräsentierbar ist (de Lauretis 1987, 20) und dass die Repräsentation von Gender zugleich seine Konstruktion ist (ebd., 10), auf unterschiedliche Weise erfahrbar. Die Filme beziehen sich explizit auf Genderdiskurse und feministische Theorien und weniger auf die Kategorie Geschlecht. D.h. sie machen die Geschlechtsdifferenzierung, die Prozesshaftigkeit und die Konstruktion von Geschlechtlichkeit, und weniger die Geschlechterdifferenz zum Gegenstand.

In eben dieser derart gestalteten Bewegung von einem Individuum zu einem Kollektiv realisiert sich die emanzipatorische Erfahrungsmodalität, bei der die Kategorie ‚Frau‘ einen entscheidenden Bezugspunkt darstellt. Emanzipatorisch meint hier also nicht einfach die Dekonstruktion und Loslösung von oppressiven Differenzen, sondern vor allem die affektdramaturgische Inszenierung eines empowerment. Gemein ist den Filmen, dass sie ein Verhältnis zwischen Zuschauerin und Hauptfigur inszenieren, das sich in der Dauer der Rezeption wandelt. Es ist nicht die Protagonistin, die sich im Laufe der Handlung entwickelt bzw. verändert, sondern es ist die Einstellung des Filmpublikums zu eben dieser, die transformiert wird. Dass die Protagonistin eben nicht ein sich zu realisierendes Subjekt darstellt, sondern sich von Beginn an als legitimes Selbst behauptet, formiert die Überzeugungskraft der Filme und strukturiert das Zuschauerinnengefühl des empowerment.

Dabei meint Weiblichkeit eben nicht eine den Filmen vorgängige, eindeutig identifizierbare soziale oder biologische Kategorie, sondern eine Art und Weise der Subjektivierung. Wie diese Erfahrung zu qualifizieren ist, liegt in den Augen der Betrachterin. Im gegenwärtigen Woman’s Film geht es also um Repräsentationsbedingungen von Subjekten und nicht um die diversen Erfahrungen von ‚realen Frauen‘. Subsumiert man die analysierten Filme unter dem Genre des Woman’s Film, mit dessen Erfahrungsmodalität sich ein Zuschauerinnensubjekt verbindet, das als weiblich definierbar ist, dann zeigen die Filme, wie konstruiert, variabel und heterogen sich diese Zuschreibung realisiert und entsprechend verstanden werden muss. Begreift man die Kategorie ‚Frau‘ als Analysekategorie, um die ästhetische Erfahrung der Filme zu konzeptualisieren, so wird verständlich, weshalb sie als Bezugspunkt zur Konzeption des Genres dienen kann, obgleich sie so unterschiedliche Bedeutungen und Funktionsweisen impliziert. Zudem legen die Filme nicht nur nahe, sich einer grundsätzlichen Reflexion der Relevanz von Geschlechterdifferenzen zu unterziehen, sondern sie selbst bilden als technologies of gender Formen sozialer wie kultureller Verhandlungsprozesse und Bedeutungsproduktion. In diesem Sinne handeln die Filme nicht von Geschlechterdifferenzen, sondern sie sind sich ereignende Geschlechterdifferenzen.

Wenngleich der Woman’s Film aufzeigt, dass die Performanz von Geschlecht elementar für die Konstitution desselben ist, bleibt die Kategorie ‚Frau‘ als identifikatorischer Bezugspunkt eines Zuschauerinnensubjekts bestehen. Die Aufstiegsgeschichten der Protagonistinnen realisieren sich in einem Zuschauerinnengefühl des kollektiven empowerment. Deshalb argumentiere ich, dass der Woman’s Film nicht einfach Individualismus inszeniert – wie es Angela McRobbie vermutlich auch angesichts dieser Filme behaupten und als Entpolitisierung sowie Affirmation mangelnder Solidarisierung kritisieren würde (McRobbie 2010, 40ff.). Stattdessen ermöglicht das Genre eine Filmerfahrung, die zwar nicht unbedingt eine neue Frauenbewegung hervorbringt, doch zumindest eine Form von Kollektivität, die nicht minder politisch sein muss. Der gegenwärtige Woman’s Film inszeniert, so könnte man die genrespezifische Affektdramaturgie auf den Punkt bringen, eine transformative Bewegung der typisch US-amerikanischen Parole „Yes, I can!“ über ein „Yes, you can!“ zu einem „Yes, we can!“ als kinematographische Erfahrungsmodalität.

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24 Wie eingangs erwähnt, wird genau diese Tatsache, dass feministische Theorien Einzug in popkulturelle Produktionen gefunden haben, in der feministischen Auseinandersetzung um den Ort von Kritik und die Relevanz politischer Theorien gegenwärtig kontrovers diskutiert. Während die einen darin einen massiven Rückschritt sehen, da politische Ansätze ‚konsumierbar‘ gemacht würden und dadurch an Tragweite verlören, sehen andere darin einen Erfolg des Feminismus. Mir geht es weniger darum, zu entscheiden, ob dieser Sachverhalt negativ oder positiv zu bewerten ist, sondern vor allem darum, zu untersuchen, wie das Verhältnis von Theorie und Film anhand des gegenwärtigen Woman’s Film überhaupt zu identifizieren und auf die Erfahrungsmodalität zu beziehen ist. Denn ich nehme an, dass die Filme sich eben nicht so einfach in die Kategorien ‚feministisch‘ bzw. ‚anti-feministisch‘ einordnen lassen – eine Uneindeutigkeit, die auch Teil der Kritik an den Produktionen ist, da diese eben sowohl (vermeintlich) ‚feministische‘ als auch ‚anti-feministische‘ Erwartungen bedienten. (vgl. Einleitung)
25 Unter „Geschlechter-Intelligibilität“ versteht Judith Butler die „Übereinstimmung mit wiedererkennbaren Mustern“ einer Person zu deren geschlechtsbestimmter Identifizierung (und gleichzeitigen Konstituierung)(vgl. Butler 1991, 37ff.).
26 Legally Blonde bezieht sich auf diese beiden polarisierenden Bilder, die als Teile eines popkulturellen Gedächtnisses zirkulieren, indem er die Konkurrentin von Elle (Reese Witherspoon) als eben solch eine ‚Jackie‘ darstellt. Während Elle im Modus der Präsentation gezeigt wird, da sie sich Stück für Stück im Film zusammensetzt, verweist die Figur der Vivian Kensington (Selma Blair), Warners neue Freundin und Verlobte, auf die Repräsentationsebene. Genau in dieser gegenläufigen Inszenierungsweise, die auf die beiden Frauen im Umkreis der Kennedys anspielt (die eine, Marilyn Monroe, im Tabu zwischen beiden Brüdern lebend, die andere, Jacqueline Kennedy, als öffentliche, repräsentierende Politikerfrau), reflektiert der Film meines Erachtens die mediale Herstellung und Zirkulation vorherrschender Geschlechterbilder, wie ich in der Analyse zeigen werde.
27 Dabei handelt es sich nicht um einen point of view, wie in Edward Branigan definiert (vgl. Branigan 2007 [1984]. So gibt es keine Blickende, die mit der blickenden Kamera korreliert. Vielmehr geht es um das Blicken selbst und um das Angeblickt-Werden, um die to-be-looked-at-ness.
28 Auf die Kategorien sex und gender und deren Inszenierung im gegenwärtigen Woman’s Film werde ich in der Analyse von Erin Brockovich näher eingehen.
29 Unter dem phänomenologisch orientiertem Konzept der „Aufteilung des Sinnlichen“ – das mittlerweile einen Gemeinplatz nicht nur in der philosophischen Auseinandersetzung um Politik und Ästhetik sowie Kunst und Gesellschaft darstellt – versteht Jacques Rancière „jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb dieses Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden. Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben. Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben.“ (Rancière 2006, 25f.)
30 „Schwarz“ bezeichnet hier nicht als rassifizierende Klassifizierung die Hautfarbe der Schauspielerinnen, sondern als politische Kategorie Angehörige einer sozialen Gruppe.
31 Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Einleitung.
32 Kai van Eikels spricht in diesem Zusammenhang von notwendigen neuen Vorstellungen von Kollektivität und Gemeinschaft, die etwa das Publikum nicht als „eine bestimmte Menge von Leuten“ fassen, sondern eher als „Zustand kollektiver Anwesenheit“. In seinem Buch Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie versucht er, die Möglichkeit von Politik über konkrete (temporäre) Handlungsmöglichkeiten zu definieren und spricht sich damit gegen vergemeinschaftlichende Identitätskonzepte aus, welche oftmals als notwendige Basis von Solidarität und Kollektivität begriffen werden (vgl. van Eikels 2012, 23).
33 Dieses Spannungsverhältnis ließe sich auch als jenes zwischen allgemeiner Repräsentation und konkretem Subjekt beschreiben, welches Teresa de Lauretis als das Verhältnis zwischen der Frau und Frauen analysiert und durch den Film als unauflösbar erfahren wird. De Lauretis schreibt: „By ‚woman‘ I mean a fictional construct, a distillate from diverse but congruent discourses dominant in Western cultures (critical and scientific, literary or juridical discourses), which works as both their vanishing point and their specific condition of existence. […] By women on the other hand, I will mean the real historical beings who cannot as yet be denied outside of those discursive formations, but whose material existence is nonetheless certain, and the very condition of this book.“ (de Lauretis 1984, 5)
34 Tatsächlich basiert der Film auf einer realen Geschichte, die ‚echte‘ Erin Brockovich taucht als Kellnerin in einer Szene auf.
35 Vgl. etwa Kaja Silverman zur – im Gegensatz zur männlichen stets verkörperlichten – weiblichen Stimme (Silverman 1988) und Michel Chion zum akusmatischen, entkörperlichten Wesen, das für ihn vor allem männlich ist (Chion 1996). Auf die Abstraktion als spezifisches Charakteristikum des männlichen Blicks verweist auch Gertrud Koch, die das männliche Blickregime mit der Logik der Tausch- und Warenwelt verbindet (vgl. Koch 1989 [1980], 137ff.).
36 Ihren Chef, Ed Masry (Albert Finney), hatte sie für den Unfall als Anwalt beauftragt. Da dieser nicht den Fall für sie entscheiden konnte, hat sie ihn dazu gebracht, sie als Assistentin einzustellen. Dabei ist nicht zu entscheiden, ob sie als alleinstehende Mutter an seine moralischen Gefühle appellierte oder als (ehemalige) Prostituierte ihn zur Zahlung nötigte. Im Laufe des Films arbeitet sie sich hoch und wird zu seiner wichtigsten Mitarbeiterin und Partnerin.
37 Darüber hinaus wird in der feministischen Theorie diskutiert, inwiefern die beiden Begriffe überhaupt brauchbare Kategorien zur Erforschung von Subjekten und ihren politischen und sozialen Bedingungen darstellen. So plädiert Teresa de Lauretis, wie bereits ausgeführt, beispielsweise dafür, gender als einen Begriff zu verstehen, der verschiedene Relationen bezeichnet (neben Geschlecht u.a. Klasse, Ethnizität). (Vgl. Kapitel 1, 42f.)
38 Delphy hatte einen entscheidenden Einfluss auf Monique Wittig und diese wiederum auf Judith Butler (vgl. hierzu auch die Einleitung).
39 Butler verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass solcherart Geschlechtsvorstellung eher auf ein Ideal denn auf eine soziale Realität verweise und fragt: „Inwiefern stellt ‚Identität‘ eher ein normatives Ideal als ein deskriptives Merkmal der Erfahrung dar? […] Mit anderen Worten: ‚Kohärenz‘ und ‚Kontinuität‘ der ‚Person‘ sind keine logischen oder analytischen Merkmale der Persönlichkeit, sondern eher gesellschaftlich instituierte und aufrechterhaltene Normen der Intelligibilität.“ (Butler 1991, 38)
40 Die Erfolgsgeschichte Erin Brockovichs stellt sich im krassen Gegensatz zu Filmen dar, in denen, wie Robert Warshow schreibt: „[…] presentations of businessmen tend to make it appear that they achieve their success by talking on the telefone and holding conferences and that success is talking on the telefone and holding conferences.“ (Warshow 1962, 87)
41 Lucy Irigary schreibt zur Gleichsetzung von Weiblichkeit und ‚Frau-Werden‘: „Was ich unter Maskerade verstehe? U.a. das, was Freud die ‚Weiblichkeit‘ nennt. Das besteht zum Beispiel darin, zu glauben, daß man eine Frau – und noch dazu eine normale Frau – werden muß, während der Mann von vornherein Mann ist. Er braucht lediglich sein Mann-Sein zu vollziehen, während die Frau gezwungen ist, eine ‚normale‘ Frau zu werden, das heißt in die Maskerade der Weiblichkeit einzutreten.“ (Irigaray zit. nach Weissberg 1994, 12f.)
42 In dem viel zitierten Aufsatz „Das Ornament der Masse“ (Kracauer 1927) bestimmmt Siegfried Kracauer die „Oberflächenäußerungen“ der Gesellschaft als Zeugnis der historischen Verfassung, z.B. begreift er die Formationen der Tiller Girls als mathematisch agierende Tanzgruppe, die nicht mehr aus Subjekten bestehe, sondern reine Gleichförmigkeit verkörpere.